Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
gewesen, als der Onkel Konkurs ging, und seither hatte er selbst für sich gesorgt. Mit wechselndem Erfolg zwar und mit Hilfe einer Moral, die von seinem Dasein als häßlichster Junge der Straße geprägt war. Aber er hatte etwas gehabt, das sonst niemand hatte: die alljährliche Reise nach Norwegen. Seine Großmutter, die aus Holmestrand kam, hatte nach Jahren der Mißhandlung ihren italienischen Mann und damit auch ihre Kinder verlassen. Der Enkel war ihr Leben und ihre Freude, auch wenn sie nach einem kurzen und kostspieligen Kampf mit dem Rechtswesen den Versuch hatte aufgeben müssen, das Sorgerecht für ihn zu erlangen. Der Onkel war großzügig bereit gewesen, ihn in den Sommerferien hinzuschicken, hatte seiner Mutter aber nie verzeihen können, daß sie ihn als Kind im Stich gelassen hatte. Claudio hatte gelernt, aus seiner Muttersprache Kapital zu schlagen. Schon mit acht Jahren hatte er auf der Piazza del Duomo gestanden und durch Intuition und scharfes Gehör norwegische Reisende ausfindig gemacht. Er war besonders geduldig gewesen. Es hatten Tage vergehen können, bis er ein neues Opfer fand. Der kleine dunkle Junge mit dem seltsamen Kopf, der überraschenderweise hervorragend Norwegisch sprach, war Mailands teuerster Fremdenführer gewesen. Er war auch nicht davor zurückgeschreckt, seine Kundschaft auszurauben. Angezeigt hatte ihn nie jemand.
Er durfte das Entré nicht verlieren.
»Ich brauche das Geld bis Weihnachten«, sagte Vilde. »Viel Zeit darfst du dir also nicht lassen.«
Als sie den Blick hob und ihn ansah, überlief es sie kalt.
»Du bekommst dein Geld«, sagte er spöttisch. »Brede ist tot. Daß er den Fehler gemacht hat, dich zu heiraten, wird mich nicht umbringen. Deine Anwältin soll eine Vereinbarung aufsetzen. Ich melde mich.«
Als er sich wieder erhob, diesmal um zu gehen, war er um einiges ruhiger.
»Du bekommst dein Geld«, wiederholte er. »Auch wenn es gar nicht deins ist.«
46
Die Wohnung sah aus wie ein ausgebombter Puff. Hanne fand zu einer gewissen resignierten Ruhe, als sie sich überlegte, daß diese Beschreibung ja auch zutraf, jedenfalls ein Stück weit. Ungeachtet des Verbotes, anderswo herumzuwühlen als in der Küche, hatte Harrymarry offenbar zu Hause vorbeigeschaut und zugegriffen. Kleider und Gegenstände lagen über Boden und Möbeln verstreut, und die Waschmaschine gab unheilverkündende Geräusche von sich. Rings um die Luke quoll Seifenschaum hervor. Zwischen Maschine und Dusche zog sich ein breiter weißer Schaumfluß dahin. Hanne schnupperte daran und schloß verzweifelt die Augen, als sie die Spülmittelflasche sah, die leer auf dem Wäschetrockner lag.
Ihre Erkältung war schlimmer geworden. Sie brachte es nicht über sich, aufzuräumen. Statt dessen trieb sie die Unordnung auf die Spitze, indem sie auf der Jagd nach einem alten Trainingsanzug einen Schrank ausräumte. Irgend etwas mußte es doch im Fernsehen geben. Etwas, bei dem sie einschlafen konnte. Es klingelte an der Tür.
Hanne hatte Harrymarry mehrere Male beschworen, ja nicht den Schlüssel zu verlieren. Sie erhob sich mühsam vom Sofa und schlurfte hinaus in die Diele. Ohne zu fragen, wer da sei, drückte sie auf den Summer und lehnte die Wohnungstür an. Im Fernsehen lief ein mieser Krimi; sie kehrte zum Sofa zurück.
Aus der Diele kamen fremde Geräusche. Da versuchte jemand leise zu sein. Harrymarry war das nicht, die hörte sich an wie ein wandelndes Schrammelorchester.
Hanne setzte sich auf und verspürte einen Stich der Angst, als sie rief: »Hallo? Wer ist da?«
Keine Antwort.
Mit einem Sprung stand sie in der Diele.
Die Frau vor ihr sah verängstigt aus. Sie trug einen knöchellangen Wildledermantel und knallrote Handschuhe. Als sie Hanne erblickte, streckte sie die Hand aus.
»I found you«, sagte sie leise.
Im Badezimmer ertönte ein Knall. Offenbar war die Waschmaschine in die Luft geflogen.
47
Die Zahnschmerzen waren wieder da. Eine zufrieden glucksende Tochter im Arm und einen altmodischen Breiumschlag um den Kopf, lief Billy T. in der Wohnung hin und her. Jenny rülpste und griff nach dem Knoten oben auf seinem Kopf. Die Plastiktüte, die er so geschickt mit einem Küchenhandtuch festgebunden hatte, platzte, als er versuchte, den Kopf einzuziehen. Die Kleine hatte Brei an den Fingern und leckte sie glücklich schmatzend ab.
»Dada«, sagte Jenny.
»Dada mich am Arsch«, erwiderte Billy T. honigsüß und griff nach dem Telefon, das schon seit einer Ewigkeit
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