Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
außerdem noch eine halbe Tüte Kartoffelchips gönnen.
Und ein Schnäpschen dazu, nur dem Herzen zuliebe. Und um ein wenig zu feiern. Das hatte sie sich nun wirklich verdient.
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Als ihr der Gedanke das erste Mal gekommen war, hatte nichts dagegen gesprochen. Im Grunde war sie ja frei. Sie konnte machen, was sie wollte. Die Reise hatte nur elf Stunden gedauert. Sie hatte das Gefühl, ebenso viele Jahre nicht mehr zu Hause gewesen zu sein. Das kalte Wasser machte ihr eine Gänsehaut. Als sie aus der Badewanne stieg, wäre sie fast gefallen. Sie griff nach dem Duschvorhang und riß ihn herunter. Hilflos blieb sie stehen und hielt die fröhlichgelbe Plastikplane in der Hand.
Die praktischen Vorbereitungen waren innerhalb von zwei Stunden erledigt gewesen, die Buchung des Fluges und eine eilig gekritzelte Nachricht an ihre Putzfrau. Erst als sie ihre Eltern anrief, um ihnen zu sagen, daß sie in den Ferien nicht nach Hause kommen würde, hatte sich ihr Gewissen geregt. Als Entschuldigung hatte sie einen internationalen Kongreß vorgebracht. Nefis hatte ihre Eltern noch nie angelogen. Und auf einmal fiel es ihr erschreckend leicht. Sie war zweiundvierzig Jahre alt und Professorin für Mathematik an der Universität Istanbul, aber manchmal fühlte sie sich immer noch wie ein kleines Mädchen, von dem Mama und Papa enttäuscht sind. Als sie fünfunddreißig geworden war, hatten ihre Eltern die Hoffnung aufgegeben, sie noch verheiratet zu sehen. Da sie sieben Brüder hatte, deren Frauen allesamt ein Kind nach dem anderen auf die Welt brachten, hatten die Eltern langsam gelernt, mit ihrer kleinen Professorin zu leben. Dreimal pro Jahr fuhr sie brav nach Hause und spielte in dem großen Haus, das immer von Menschenfülle und endlosen Mahlzeiten geprägt war, die pflichtbewußte Tochter. Die Familie feierte alle muslimischen Feste, allerdings eher, weil es so Brauch war, als aus religiöser Überzeugung heraus. Nefis war gern zu Haus, sie genoß ihre Rolle als einzige Tochter und Tante von sechzehn Nichten und fünf Neffen. Das war ihr eines Leben.
Das andere fand in Istanbul statt.
Sie knüllte den Duschvorhang zusammen und stopfte ihn hinter das Klo. Das Zimmer war so teuer, daß es keinen Grund gab, dieses Malheur an die große Glocke zu hängen. Sie wickelte sich in ein Handtuch und ging zum Fenster.
Vom dreizehnten Stock des Oslo Plaza aus wirkte die Stadt wie ein zusammengescharrter Zufall. Die Straßen schienen eben noch unter Wasser gestanden zu haben; überall lagerte eine graue Feuchtigkeit, die sogar die Leuchtreklamen blaß aussehen ließ.
Nefis Özbabacan hatte zwei Leben.
In Izmir war sie die Tochter des Hauses. In Istanbul war sie die international anerkannte Wissenschaftlerin mit eigener Wohnung in einem modernen Stadtteil. Ihr Bekanntenkreis hatte mit der Universität zu tun, dazu kamen noch ein paar Angehörige des diplomatischen Corps. Von ihren Bekannten wurde sie nie gefragt, warum sie nicht verheiratet sei. Da sie daran gewöhnt war, zwei Leben zu leben, hatte es ihr keine sonderlichen Schwierigkeiten bereitet, noch einen dritten Raum im Dasein zu entdecken.
Langsam zog sie sich an.
An der Rezeption war ihr erklärt worden, es sei der letzte Samstag vor Heiligabend und offenbar Hochsaison für die Restaurants. Es könne schwierig werden, ein Taxi zu erwischen. Die Adresse hatten sie immerhin problemlos ausfindig machen können. Sie schauderte leicht, als ihr noch einmal aufging, daß sie aus Istanbul abgereist war ohne eine andere Grundlage als eine Nacht in Verona und den Namen einer Frau, die in Oslo wohnte.
Sie war gerade mit dem Schminken fertig, als das Telefon klingelte.
Das Taxi war gekommen.
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Vilde Veierland Ziegler lauschte dem Rieseln des Wassers dermaßen konzentriert, daß sie die Frage des Kellners nicht registrierte. Erst als sie zum dritten Mal angesprochen wurde, blickte sie verwirrt auf.
»Ach, Verzeihung, ich warte noch auf jemanden. Aber …«
Der Kellner hatte sich schon abgewandt.
»Könnte ich wohl ein Glas Eiswasser haben?«
Vilde hatte das Restaurant Blom als Treffpunkt vorgeschlagen. Hier würden sie in Ruhe miteinander sprechen können, ohne womöglich Bekannten zu begegnen. Hier verkehrten vor allem ausländische Geschäftsleute, die sich von einem norwegischen Künstlerlokal verlocken ließen, dessen Preise norwegische Künstler schon lange nicht mehr bezahlen konnten. Die Tische waren nur spärlich besetzt, und sie hatte den Eindruck, daß irgendwer den
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