Das Letzte Protokoll
zusammengenäht. Auf dem Kopfkissen liegt ihr in rotes Leder gebundenes Tagebuch, auf dessen Umschlag in schnörkl i gen Goldbuchstaben »Tagebuch« steht. Darin ve r schlossen Grace Wilmots sämtliche Geheimnisse.
Misty sagt: »Halt still, Schatz«, und nimmt eine Wimper von Tabbis Wange. Misty reibt die Wimper zwischen zwei Fingern. Sie ist lang wie die Wimpern ihres Vaters.
Deine Wimpern.
Zwei Einzelbetten, Tabbis und das ihrer Großmutter, da bleibt nicht viel Platz übrig. Mutter Wilmot hat ihr Tagebuch mitg e bracht. Das und ihren Nähkorb mit Stickgarn. Ihre Stricknadeln und Häkelnadeln und Stickrahmen. Da hat sie was zu tun, wenn sie mit ihren alten Freundinnen im Foyer oder bei gutem Wetter draußen an der Stran d promenade sitzt.
Deine Mutter macht es genau wie all die anderen feinen alten Mayflower-Familien: errichten ihre Wagenburg am Hotel W a ytansea und warten auf das Ende der Belagerung durch die furchtb a ren Fremden.
Es mag sich blöd anhören, aber Misty hat ihre Zeiche n sachen mitgebracht. Ihren hellen Holzkasten mit Ol— und Wasserfa r ben, Papier und Pinsel, das alles ist in einer Ecke ihres Zimmers au f gestapelt.
Und Misty sagt: »Tabbi, Schatz?« Sie sagt: »Möchtest du vie l leicht bei deiner Oma Kleinman in Tecumseh Lake wohnen?«
Und Tabbi schüttelt den Kopf, hin und her auf dem Ki s sen, und als sie damit aufhört, sagt sie: »Omi Wilmot hat mir erzählt, w a rum Dad die ganze Zeit das große Kotzen gekriegt hat.«
Misty ermahnt sie. >»Großes Kotzen< sagt man nicht. Bi t te.«
Nur um das festzuhalten: Omi Wilmot sitzt mit ihren alten Sp e zis vor der großen Uhr im holzgetäfelten Nebe n raum des Foyers und spielt Bridge. Und das lauteste G e räusch in diesem Zimmer ist das Ticktack des schweren Pendels. Oder aber sie sitzt unten im Foyer in einem großen roten Ledersessel am K a min und liest, mit der dicken Leselupe über das Buch auf dem Schoß gebeugt. Tabbi reibt das Kinn am Satinsaum der Decke und sagt: »Omi hat mir erzählt, warum Dad dich nicht liebt.«
Und Misty sagt: »Aber dein Daddy liebt mich doch.«
Aber das ist natürlich gelogen.
Vor dem kleinen Gaubenfenster schimmern die brechenden Wellen unter den Lichtern des Hotels. Weit hinten an der Küste ist die dunkle Linie der Landspitze zu sehen, eine Halbinsel, nichts als Wald und Felsen dicht über dem schimmernden Oz e an.
Misty tritt ans Fenster, legt die Fingerspitzen aufs Fen s terbrett und sagt: »Zu oder auf?« Die weiße Farbe auf dem Fensterbrett ist wellig und blättert ab. Sie pult daran herum, Farbsplitter ger a ten ihr unter den Fingernagel.
Tabbi bewegt den Kopf auf dem Kissen hin und her und sagt: »Nein, Mama.« Sie sagt: »Omi Wilmot sagt, dass Dad dich nie wirklich geliebt hat. Er hat nur so getan, um dich hierher zu kriegen und hier zu behalten.«
»Um mich hierher zu kriegen?«, sagt Misty. »Nach W a ytansea Island?« Mit zwei Fingern kratzt sie die lose weiße Farbe ab. Das Brett darunter ist dunkles lackiertes Holz. Misty sagt: »Was hat deine Großmutter dir sonst noch e r zählt?«
Und Tabbi sagt: »Omi sagt, dass du eine berühmte Künstlerin wirst.«
In Kunsttheorie bringen sie einem nicht bei, dass ein zu großes Kompliment mehr wehtun kann als ein Schlag ins Gesicht. Misty, eine berühmte Künstlerin. Die dicke, fette Misty Wilmot, Königin der verdammten Sklaven.
Die weiße Farbe schält sich ab, ein Muster entsteht, Worte. G e schrieben mit einer Wachskerze, einem fettigen Finger, vie l leicht auch Gummiarabikum, jedenfalls erscheint darunter eine Bo t schaft. Vor langer Zeit hat hier jemand etwas Unsichtbares hi n geschrieben, mit etwas, auf dem frische Farbe nicht haftet.
Tabbi hebt ein paar Haarsträhnen an und betrachtet die Spi t zen aus solcher Nähe, dass sie schielt. Sie betrachtet ihre Fingernägel und sagt: »Omi sagt, wie sollten mal Picknick auf der Landspitze machen.«
Der Ozean schimmert hell wie der schäbige Mod e schmuck, den Peter auf der Kunstakademie trug. Die Landspitze von W a ytansea ist nichts als schwarz. Ein V a kuum. Ein Loch.
Misty sieht nach, ob das Fenster geschlossen ist, und wischt sich die losen Farbschnipsel in die hohle Hand. Auf der Kunstak a demie lernt man die Symptome einer fortgeschrittenen Bleive r giftung: Erschöpfung, Niedergeschl a genheit, Schwächegefühl, Verblödung - Symptome, die Misty nahezu ihr ganzes Leben lang an sich beobachtet hat.
Und Tabbi sagt: »Omi Wilmot sagt, alle werden deine Bilder kaufen wollen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher