Das Letzte Protokoll
»Bist du dir sicher, dass das die Richtige ist?«
Die Elster in ihr, die kleine Prinzessin in ihr konnte die Augen nicht von dem glitzernden roten Ohrring des Jungen abwe n den. Von dem schimmernden Emailleherzen. Dem roten Fu n keln der falschen Rubine.
Peter legte ein Stück Pappe hinter das Bild und befestigte es rund um die Kante mit Klebeband. Er strich das Band mit dem Daumen fest und sagte: »Du hast das Bild gesehen.« Er hielt i n ne, seufzte, seine Brust wölbte sich und fiel wieder zusa m men. Er sagte: »Ich fürchte, sie ist genau die Richtige.«
Misty, ihre Augen hatten sich im blonden Gewirr der Haare des Freundes verfangen. Das rote Funkeln des Oh r rings dort war wie Weihnachtslichter und Geburtstag s kerzen. Im Sonnenlicht des Schaufensters glich der Ohrring dem Feuerwerk zum Unabhä n gigkeitstag und den Rosensträußen zum Valentinstag. In das G e glitzer ve r sunken, vergaß sie ganz, dass sie Hände, ein Gesicht und einen Namen hatte.
Sie vergaß zu atmen.
Peter sagte: »Was hab ich dir gesagt, Mann?« Er sah Misty jetzt an, sah, wie der rote Ohrring sie bezauberte, und sagte: »Sie kann dem alten Schmuck nicht widerst e hen.«
Der Blonde fühlte Mistys Blicke auf sich und schielte mit be i den blauen Augen nach der Stelle, von der Misty sich nicht lo s reißen konnte.
Im Glasgefunkel des Ohrrings war das Sprudeln von Cha m pagner, den Misty noch nie gesehen hatte. Da sprühten Funken von Lagerfeuern am Strand, wirbelten zu Sommersternen auf, von denen Misty nur träumen konnte. Da blitzten Kronleuchter aus Kri s tall, die sie in jedes ihrer Fantasiewohnzimmer gemalt hatte.
All die Sehnsüchte und idiotischen Bedürfnisse eines armen, einsamen Mädchens. Etwas Dummes und Unau f geklärtes in ihr, nicht die Künstlerin, sondern die Schwachsinnige in ihr, fand diesen Ohrring umwerfend schön, dieses helle Funkeln und Glänzen. Das Glitzern süßer Bonbons. Bonbons in einer Schale aus geschli f fenem Glas. Die Schale in einem Haus, das sie nie betreten hatte. Nichts Tiefsinniges oder Inhaltsschweres. Einfach nur a l les, was zu bewundern wir programmiert sind. Pailletten und Regenbogen. Geschmeide, die zu ignorieren sie e i gentlich gebildet genug sein sollte.
Peters blonder Freund griff sich mit einer Hand ins Haar, ans Ohr. Der Mund klappte ihm auf, so schnell, dass der Kaugu m mi herausfiel.
Dein Freund.
Und du hast gesagt: »Vorsicht, Mann, oder willst du sie mir e t wa wegnehmen . ..«
Und der Freund fingerte in seinem Haar herum und zerrte an dem Ohrring. Dann ein Geräusch, bei dem sie alle zusamme n fuhren.
Als Misty die Augen aufmachte, hielt ihr der Blonde seinen Ohrring hin. Er hatte Tränen in den blauen Augen. Sein zerriss e nes Ohrläppchen hing in zwei Fetzen, gespalten und ausg e franst, und von den Spitzen tropfte Blut. »Hier«, sagte er, »nimm es.« Und er warf den Ohrring auf die Werkbank. Bei der Landung spuckten Gold und falsche Rubine Blut und rote Fu n ken.
Der Schraubverschluss war noch zu. So alt, dass das Gold grün geworden war. Er hatte sich den Ohrring so heftig abg e rissen, dass sogar noch Haare daran hingen. Und an jedem Haar, mit s amt der Wurzel herausgerupft, hing noch der weiche weiße Balg.
Eine Hand am Ohr, Blut zwischen den Fingern, lächelte der Junge sie an. Sein Corrugator-Muskel zog ihm die blassen A u genbrauen zusammen. Er sagte: »Entschuldige, Petey. Sieht aus, als wärst du der Glückliche.«
Und Peter hob das fertig gerahmte Bild hoch. Von Misty am u n teren Rand signiert.
Die Signatur deiner künftigen Frau. Ihre bourgeoise kleine Se e le.
Deine künftige Frau, deren Hand sich schon nach dem blut i gen roten Gefunkel ausstreckte.
»Ja«, sagte Peter, »ich bin echt ein Glückspilz.«
Und immer noch blutend, eine Hand aufs Ohr gepresst, ein Rinnsal Blut am Arm, das ihm von der Ellbogenspitze tropfte, trat Peters Freund ein paar Schritte zurück. Mit der anderen Hand griff er nach der Tür. Er wies mit einer Kopfbewegung nach dem Ohrring und sagte: »Den kannst du behalten. Als Hochzeitsgeschenk.« Und dann war er weg.
9. Juli
Als Misty heute Abend deine Tochter ins Bett bringt, sagt Tabbi plötzlich: »Omi Wilmot und ich, wir haben ein Gehei m nis.«
Nur um das festzuhalten: Omi Wilmot kennt die Geheimnisse a l ler Leute.
Grace bleibt bis zum Ende des Gottesdienstes. Einmal stupst sie Misty an und sagt ihr, das Rosenfenster hätten die Burtons für ihre arme melancholische Schwiegertoc h ter gestiftet - nun, die Wahrheit
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