Das Letzte Protokoll
du erst ü bermorgen.«
Und Misty beugt sich zu ihr vor und sagt: »Wie kommst du d a zu, meiner Tochter solche Flöhe ins Ohr zu setzen?«
Grace sieht von ihrem Buch auf und macht ein entgeistert schlaffes Gesicht. Drückt das Kinn so fest an den Hals, dass die Haut sich von einem Ohr zum andern in Falten legt. Ihr subk u tanes musculoaponeurotisches System. Ihr submentales Fett. Der runzl i ge Platysmaring um ihren Hals.
Misty sagt: »Was fällt dir ein, Tabbi zu erzählen, dass ich eine b e rühmte Künstlerin werde?« Sie sieht sich um: Sie sind immer noch allein. Sie sagt: »Ich bin Kellnerin, ich habe ein Dach überm Kopf, und das reicht mir. Ich will nicht, dass du meiner Tochter Hof f nungen machst, die ich nicht erfüllen kann.« Mit dem Rest ihres Atems sagt sie: »Siehst du denn nicht, wie ich später dann dast e he?«
Ein sanftes, breites Lächeln umspielt Grace' Lippen, und sie sagt: »Aber, Misty, das ist die Wahrheit. Du wirst berühmt we r den.« Grace' Lächeln ist wie ein aufgehender Vorhang. Eine Premierenvorstellung. Eine Selbstenthü l lung.
Und Misty sagt: »Werde ich nicht.« Sie sagt: »Ich kann nicht.« Sie ist bloß ein normaler Mensch, unbemerkt und unerkannt wird sie leben und sterben. Ganz gewöhnlich. Das ist doch ke i ne Tragödie.
Grace schließt die Augen. Immer noch lächelnd, sagt sie: »Oh, du wirst berühmt, sobald du . ..«
Und Misty sagt: »Hör auf. Hör endlich auf.« Will sie zum Schweigen bringen, sagt: »Für dich ist das immer so einfach, a n deren Leuten Hoffnung zu machen. Siehst du denn nicht, dass du sie damit kaputtmachst?« Misty sagt: »Ich bin eine ve r dammt gute Kellnerin. Falls du's noch nicht gemerkt hast, wir sind hier nicht mehr die her r schende Klasse. Wir haben hier nicht mehr das S a gen.«
Peter, das Problem mit deiner Mutter ist, dass sie nie in einem Wohnwagen gelebt hat. Nie mit Lebensmittelkarten irgendwo angestanden hat. Sie weiß nicht, wie man als armer Mensch lebt, und sie hat auch nicht vor, es zu le r nen.
Misty sagt, es gibt Schlimmeres, als Tabbi so zu erziehen, dass sie in diesem Wirtschaftssystem zurechtkommt, dass sie in der Welt, die sie erben wird, einen Job finden kann. Es ist nichts d a bei, als Kellnerin zu arbeiten. Zimmer zu putzen.
Und Grace legt ein Spitzenbändchen als Lesezeichen in ihr T a gebuch. Blickt auf und sagt: »Und warum trinkst du dann?«
»Weil Wein mir schmeckt«, sagt Misty.
Grace sagt: »Du trinkst und treibst dich mit Männern herum, weil du Angst hast.«
Mit Männern meint sie offenbar Angel Delaporte. Den Mann mit der Lederhose, der das Wilmot-Haus gemietet hat. Angel Delaporte mit seiner Graphologie und dem mit gutem Gin g e füllten Flachmann.
Und Grace sagt: »Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Sie faltet die Hände auf dem Tagebuch in ihrem Schoß und sagt: »Du trinkst, weil du dich ausdrücken willst und Angst hast.«
»Nein«, sagt Misty. Sie legt den Kopf auf die Schulter und sieht Grace von der Seite an. Sie sagt: »Nein, du weißt nicht, wie ich mich fühle.«
Das Feuer neben ihnen knackt, eine Funkenspirale steigt den Schornstein hinauf. Aus dem Kamin weht Rauchgeruch. Ihr L a gerfeuer.
»Gestern«, liest Grace aus ihrem Tagebuch vor, »hast du ang e fangen, Geld zu sparen, damit du in deine Heimatstadt zurüc k ziehen kannst. Du sammelst das Geld in e i nem Umschlag, den du unterm Teppich vor dem Fenster in deinem Zimmer ve r steckt hast.«
Grace blickt mit hochgezogenen Augenbrauen auf. Der Corrugator legt ihre fleckige Stirnhaut in Falten.
Und Misty sagt: »Du spionierst mir nach?«
Und Grace lächelt. Sie klopft mit der Leselupe auf das aufg e schlagene Buch und sagt: »Es steht in deinem Tag e buch.«
Misty sagt: »Das ist dein Tagebuch.« Sie sagt: »Du kannst nicht für einen anderen Tagebuch führen.«
Nur damit du's weißt, die alte Hexe spioniert Misty nach und n o tiert sich alles in ihrem bösen roten Buch.
Und Grace lächelt. Sie sagt: »Ich führe es nicht. Ich lese es nur.« Sie blättert um, späht durch die Leselupe und sagt: »Oh, mo r gen wird's aufregend. Hier steht, dass du sehr wahrscheinlich einen netten Polizisten kennen lernen wirst.«
Nur um das festzuhalten: Morgen lässt Misty das Schloss an i h rer Tür austauschen. Pronto.
Misty sagt: »Hör auf. Ich sage dir, hör endlich auf.« Misty sagt: »Es geht jetzt um Tabbi, und je früher sie lernt, mit einem norm a len Leben zurechtzukommen, mit einem gewöhnlichen, alltägl i chen Job und einer
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