Das Letzte Protokoll
ihr Territor i um.
Sedona, Key West, Sun Valley, das Paradoxon zahlloser Leute, die alle an denselben Ort ziehen, um allein zu sein.
Misty zieht mit dem Zeigefinger die schwarze Schrift nach. Sie sagt: »Als du vom Stendhal-Syndrom gespr o chen hast, was hast du damit gemeint?«
Und während er weiter fotografiert, sagt Angel: »Das ist nach dem französischen Schriftsteller Stendhal benannt.«
Die Worte, die sie nachzieht, die lauten: »... Misty Wi l mot wird euch alle in die Hölle schicken . ..«
Deine Worte. Du Mistkerl.
Stanislawski hatte Recht, man kann immer wieder neuen Schmerz empfinden, wenn man etwas entdeckt, was man eigen t lich längst schon weiß.
Stendhal-Syndrom, sagt Angel, das ist ein medizinischer Fac h ausdruck. Gemeint ist damit, wenn ein Gemälde oder i r gendein Kunstwerk so schön ist, dass es den Betrachter überwältigt. Die Wirkung gleicht einem Schock. Als Stendhal 1817 in Florenz die Kirche Santa Croce besichtigte, sei er vor Wonne fast ohnmäc h tig geworden, schreibt er. Die Leute bekommen heftiges Herzklo p fen. Ihnen wird schwindlig. Im Anblick großer Kunst ve r gisst man seinen Namen, man vergisst praktisch alles. Das kann bis zu Depressionen und körperlicher Erschöpfung führen. Amn e sie. Panik. Herzinfarkt. Kollaps.
Nur um das festzuhalten: Misty findet, dass Angel Delaporte ziemlichen Scheiß redet.
»Wenn man zeitgenössischen Berichten glauben kann«, sagt er, »hat Maura Kincaids Kunst eine Art Massenhysterie hervorger u fen.«
»Und heute?«, sagt Misty.
Angel zuckt die Achseln. »Keine Ahnung.« Er sagt: »Was ich davon gesehen habe, ist ja ganz nett, aber bloß Lan d schaften, hübsch anzusehen.«
Er sieht nach ihrem Finger und sagt: »Spürst du was?« Er macht ein Foto und sagt: »Komisch, wie sich die Dinge ä n dern.«
»... wir sind arm«, hat Peter geschrieben, »aber wir besitzen, wonach sich jeder Reiche sehnt... Frieden, Schönheit, Ruhe . ..«
Deine Worte.
Dein Leben nach dem Tod.
Heute Abend auf der Heimfahrt ist es Will Tupper, der Misty das Bier in der Papiertüte reicht. Er lässt sie an Deck trinken, o b wohl es verboten ist. Er fragt, ob sie in letzter Zeit etwas gemalt hat. Irgendwelche Landschaften vie l leicht?
Der Mann mit dem Hund, der Mann auf der Fähre sagt, der Hund sei ausgebildet, Tote aufzuspüren. Wenn Leute sterben, ve r strömen sie einen sehr starken Geruch, und was da so stinkt, heißt Adrenalin, sagt der Mann. Der G e ruch der Angst.
Misty trinkt das Bier aus der braunen Tüte und lässt ihn ei n fach reden.
Das Haar des Mannes ist an den Schläfen weit zurückgew i chen, die nackte Kopfhaut vom kalten Wind gerötet, und das Ganze sieht aus, als hätte er Teufelshörner. Er hat Teufelshö r ner , und sein ganzes Gesicht ist rot und runzlig verkniffen. Dynamische Runzeln. Laterale Kanthorhyt i den.
Der Hund dreht den Kopf nach hinten über die Schulter, er ve r sucht von ihr wegzukommen. Das Aftershave des Mannes riecht nach Gewürznelken. An seinem Gürtel, unter der Jacke, hängt ein Paar Handschellen.
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist zunehmend ch a otisch mit der Möglichkeit eines physischen und psychischen Z u sammenbruchs.
Der Mann hält die Hundeleine und sagt: »Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht?«
Und Misty antwortet: »Glauben Sie mir, ich bin nicht tot.«
»Kann sein, dass meine Haut tot ist«, sagt sie.
Stendhal-Syndrom. Adrenalin. Graphologie. Das Koma der D e tails. Der Bildung.
Der Mann zeigt mit dem Kinn auf das Bier in der braunen P a piertüte und sagt: »Sie wissen, dass Sie in der Ö f fentlichkeit nicht trinken dürfen, oder?«
Und Misty sagt: Was? Ist er etwa Polizist?
Und er sagt: »Wissen Sie's? Aber es stimmt. Ja, bin ich.« Der Mann klappt seine Brieftasche auf und hält ihr die Dienstmarke hin. Auf dem silbernen Stück Blech steht eingraviert: Clark Sti l ton. Detective. Sondereinheit Hasskrim i nalität Seaview County.
13. Juli
Vollmond
Tabbi und Misty gehen durch den Wald. Die wilde Gegend draußen auf der Landspitze von Waytansea. Hier wachsen Erlen, Generationen von Bäumen, groß geworden, umgestürzt und wieder neu aus den eigenen Toten heraus entsprossen. Tiere, Rehe vermutlich, haben einen Pfad angelegt, der sich, dick mit Moos gepolstert, um die Haufen komplizierter Bäume und zw i schen Felsen, groß wie Architektur, hindurchwindet. Über all dem schließt sich das Erlenlaub zu einem hellgrünen Himmel.
An einzelnen Stellen fallen Sonnenstrahlen
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