Das Letzte Protokoll
lernt man, dass es auch eine Etikette gibt, was Drogen angeht. Man muss teilen.
Misty sagt: »Bedien dich. Nimm dir eine.«
Und Angel öffnet die Pillenflasche und schüttelt zwei heraus. E i ne schiebt er sich in die Hosentasche und sagt: »Für später.« Die andere nimmt er mit einem Schluck Gin. Er würgt, zieht ein schreckliches Gesicht, kippt nach vorn und lässt seine rotweiße Zunge raushängen. Augen fest zugepresst.
Immanuel Kant und seine Gicht. Karen Blixen und ihre Syph i lis. Peter würde Angel Delaporte erzählen, dass Leiden der Schlüssel zur Inspiration ist.
Misty breitet die Aquarelle und Skizzen auf dem Sofa aus und sagt: »Was meinst du?«
Angel nimmt jedes einzelne Blatt in die Hand. Schüttelt den Kopf. Kaum wahrnehmbar, fast als wäre er gelähmt. Er sagt: »Einfach unglaublich.« Er nimmt ein anderes Bild und sagt: »Was für eine Software benutzt du?«
Meinte er den Pinsel? »Marder«, sagt Misty. »Manchmal Eic h hörnchen oder Ochsenschwanz.«
»Nein, Dummkopf«, sagt er, »auf deinem Computer. Zum Zeichnen. So was kannst du unmöglich mit normalen Werkze u gen gezeichnet haben.« Er fährt mit dem Fi n ger über ein Schloss auf einem Bild, über ein kleines Haus auf einem and e ren.
Mit Werkzeugen?
»Du arbeitest doch nicht etwa mit Lineal und Zirkel, oder?«, sagt Angel. »Und Winkelmesser? Deine Winkel sind absolut pe r fekt. Du benutzt eine Schablone, stimmt's?«
Misty sagt: »Wie: Zirkel?«
»Habt ihr so was nicht in Mathe auf der Schule gehabt?«, sagt Angel und spreizt zur Demonstration Daumen und Zeigefi n ger. »An einem Arm ist unten eine Spitze dran, und an dem andern ist eine Bleistiftmine. Damit kann man perfekte Kreise zeichnen.«
Er hält ein Bild hoch: ein Haus auf einem Hang überm Strand, Ozean und Bäume in verschiedenen Schattieru n gen von Blau und Grün. Die einzige warme Farbe ist ein gelber Punkt, ein Licht in einem Fenster. »Das könnte ich mir ewig ansehen«, sagt er.
Stendhal-Syndrom.
Er sagt: »Ich gebe dir fünfhundert Dollar dafür.«
Und Misty sagt: »Ich kann nicht.«
Er nimmt ein anderes Bild aus der Mappe und sagt: »Wie wär's dann mit diesem?«
Sie kann keines davon verkaufen.
»Tausend?«, sagt er. »Ich geb dir tausend, nur für das e i ne.«
Tausend Dollar. Aber trotzdem. Misty sagt Nein.
Angel sieht sie an und sagt: »Dann gebe ich dir zehnta u send für alle zusammen. Zehntausend Dollar. In bar.«
Misty will schon Nein sagen, aber...
Angel sagt: »Zwanzigtausend.«
Misty seufzt und . ..
Angel sagt: »Fünfzigtausend Dollar.«
Misty sieht zu Boden.
»Warum«, sagt Angel, »habe ich das Gefühl, dass du sogar zu e i ner Million Dollar Nein sagen würdest?«
Weil die Bilder nicht fertig sind. Sie sind nicht perfekt. Die Le u te dürfen sie nicht sehen, noch nicht. Und es gibt noch mehr, die sie noch gar nicht angefangen hat. Misty kann sie nicht verka u fen, weil sie sie als Studien für etwas Größeres braucht. Sie alle sind nur ein Teil von etwas, was sie noch nicht sieht. Es sind A n halt s punkte.
Wer weiß, warum wir tun, was wir tun.
Misty sagt: »Warum bietest du mir so viel Geld an? Soll das e i ne Art Test sein?«
Und Angel zieht den Reißverschluss seiner Kamer a tasche auf und sagt: »Ich will dir etwas zeigen.« Er nimmt ein paar glä n zende Werkzeuge heraus. Metall. Eines b e steht aus zwei spitzen Stäben, die, an einem Ende verbu n den, ein V bilden. Das andere ist ein Halbkreis aus Metall, geformt wie ein D und an der ger a den Seite mit Zentim e tereinteilung.
Angel hält das D an die Zeichnung eines Bauernhauses und sagt: »Alle deine Geraden sind absolut gerade.« Er legt das D auf ein Aquarell, auf ein Haus, und ihre Linien sind alle perfekt. »Das ist ein Winkelmesser«, sagt er. »Damit kann man Winkel messen.«
Angel hält den Winkelmesser an ein Bild nach dem anderen und sagt: »Deine Winkel sind alle perfekt. Exakte Neunzig-Grad-Winkel. Exakte Fünfundvierzig-Grad-Winkel.« Er sagt: »Aufg e fallen ist mir das an dem Sesse l bild.«
Er nimmt das V-förmige Werkzeug und sagt: »Das also ist so ein Zirkel, mit dem man perfekte Kreise zeichnen kann.« Er sticht die Spitze eines Zirkelarms in die Mitte einer Kohlezeic h nung. Er dreht den anderen Arm um den mit der Spitze und sagt: »Jeder Kreis ist perfekt. Jede Sonnenblume, jede Vogelträ n ke. Jede Wö l bung, alles perfekt.«
Angel zeigt auf ihre Bilder, die auf dem Sofa ausgebreitet sind, und sagt: »Du zeichnest perfekte Formen. Das ist
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