Das Letzte Protokoll
auf der perfekten Dachkante eines Gebäud e flügels. Ein Swimmingpool öffnet sich auf einer perfekten Te r rasse. Die Wiese verschwindet fast ganz, als eine neue Tre p pe bis an den Rand des perfekten Waldes führt.
Alles ist ein Selbstporträt.
Alles ein Tagebuch.
Und die Stimme im Telefon sagt: »Mrs. Wilmot?«
Rankpflanzen klettern die Wände hoch. Schornsteine wachsen aus dem Dach.
Und die Stimme im Telefon sagt: »Misty?« Die Stimme sagt: »Haben Sie sich den amtsärztlichen Bericht über den Selbs t mordversuch Ihres Mannes vorlegen lassen?« Dete c tive Stilton sagt: »Wissen Sie, wo Ihr Mann sich Schlaftabletten besorgt h a ben könnte?«
Nur um das festzuhalten: Das Problem mit der Kunsta k ademie ist, dass sie einem Technik und Handwerk beibringen kann, T a lent aber kann sie einem nicht geben. I n spiration kann man nicht ka u fen. Mit Vernunft kann man keine Eingebung herbeiführen. Eine Formel entwickeln. Einen Weg zur Erleuc h tung.
»Im Blut Ihres Mannes«, sagt Stilton, »hat man jede Menge Phenobarbital-Natrium nachgewiesen.«
Am Tatort habe man keine Medikamente gefunden, sagt er. Keine Pillen, kein Wasser. Und keinen Hinweis darauf, dass er jemals etwas verschrieben bekommen habe.
Misty malt weiter und fragt, worauf er damit hinauswill.
Und Stilton sagt: »Sie sollten mal darüber nachdenken, wer ihn vielleicht hat umbringen wollen.«
»Höchstens ich«, sagt Misty. Und wünscht sofort, sie hä t te das nicht gesagt.
Das Bild ist fertig. Perfekt. Schön. Ein Haus, das Misty nie ges e hen hat. Sie hat keine Ahnung, wo das herg e kommen ist. Dann tränkt sie einen Katzenzungenpinsel Nummer 12 mit Elfenbei n schwarz und überstreicht das ganze Bild.
25. Juli
Die Häuser an Gum Street und Larch Street sehen alle ganz großartig aus, wenn man sie das erste Mal sieht. Drei-oder vie r geschossig, mit weißen Säulen an der Front, stammen sie aus der Zeit der letzten großen Hochko n junktur vor achtzig Jahren. Vor einem Jahrhundert. Alle stehen sie abseits der Str a ße zwischen weit ausladenden Walnussbäumen und Eichen, die mächtig wie grüne Gewitterwolken sind. An der Cedar Street stehen sie e i nander gegenüber, gewalzte Rasenflächen zwischen sich. Wenn man sie zum ersten Mal sieht, wirken sie überaus luxuriös.
»Tempelfassaden«, so hatte Harrow Wilmot das Misty erklärt. Etwa ab 1798 baute man in Amerika schlichte, aber kolossale Fassaden im altgriechischen Stil. 1824, sagte er, als William Strickland die Second Bank of the United States in Philadelphia entwarf, gab es kein Zurück mehr. Danach musste jedes Haus, ob groß oder klein, an seiner Fassade eine Säulenreihe und ein g e strecktes Giebeldre i eck haben.
Man nannte die Häuser »Endhäuser«, weil dieser ganze mod i sche Schnickschnack sich nur an einem Ende derse l ben befand. Der Rest der Häuser war ganz schlicht.
Damit wäre fast jedes Haus auf der Insel beschrieben. Nichts als Fassade. Der erste Eindruck.
Vom Capitol-Gebäude in Washington bis zum kleinsten Lan d häuschen: überall das, was die Architekten »das griechische Krebsgeschwür« nannten.
»Für die Architektur«, sagte Harrow, »war es das Ende des Fortschritts und der Beginn des Recyclings.« Er traf Misty und Peter an der Bushaltestelle in Long Beach und fuhr sie zur Fä h re.
Die Inselhäuser wirken alle ganz großartig, bis man b e merkt, wie da überall die Farbe abblättert und in kleinen Häufchen um die Säulen herumliegt. Die Kehlbleche sind verrostet und hä n gen in roten Streifen von den Dächern. Fenster, denen eine Scheibe fehlt, sind mit brauner Pappe ausgebessert.
In drei Generationen alles verspielt.
Keine Investition gehört einem für immer. Das hat Harrow Wilmot ihr erklärt. Das Geld ging bereits aus.
»Eine Generation macht das Geld«, erklärte ihr Harrow ei n mal. »Die nächste Generation bewahrt das Geld. Der dritten geht es aus. Die Leute vergessen immer, was es heißt, ein Familienve r mögen aufzubauen.«
Peters Gekritzel:»... euer Blut ist unser Gold . ..«
Nur um das festzuhalten: Während Misty zu der Vera b redung mit Detective Stilton fährt, auf dieser dreistündigen Fahrt zu P e ters Lagerhaus versucht sie alles zusa m menzustellen, was sie von Harrow Wilmot weiß.
Bei ihrem ersten Besuch auf Waytansea Island zusa m men mit Peter, da hatte sein Vater sie beide im alten Buick der Familie herumgefahren. Alle Autos auf der Insel w a ren alt; außen zwar sauber und gepflegt, aber die Sitze mit
Weitere Kostenlose Bücher