Das Letzte Protokoll
sie aufsässig werden. Ach, Misty könnte ein Buch über Anachor e ten schreiben.
Die Essener, sagt Dr. Touchet, lebten abseits der norm a len Welt. Sie erzogen sich, indem sie Krankheit und Qu a len ausstanden. Sie verließen ihre Familie und ihr Eigentum. Sie litten in dem Gla u ben, dass unsterbliche Seelen aus dem Himmel auf die Erde he r abgelockt würden und dort körperliche Gestalt annähmen, um Sex zu haben, zu trinken, Drogen zu nehmen und in Völlerei zu leben.
Essener waren die Lehrer des jungen Christus. Und J o hannes des Täufers.
Sie selbst nannten sich Heiler und wirkten Jahrhunderte vor Lazarus sämtliche Wunder Christi - Kranke heilen, Tote erw e cken, böse Geister austreiben. Die Jainas verwandelten Jahrhu n derte vor den Essenern Wasser in Wein, und diese taten es Jah r hunderte vor Jesus.
»Man kann dieselben Wunder immer und immer wieder tun, s o lange niemand sich an das letzte Mal erinnert«, sagt der Arzt. »Merken Sie sich das.«
So wie Jesus sich als einen Stein bezeichnete, den die Maurer verworfen hätten, bezeichneten sich die jainist i schen Einsiedler als Baumstämme, die von allen Zimmerleuten verworfen wo r den seien.
»Sie haben die Vorstellung«, sagt der Arzt, »dass der Seher a b seits der normalen Welt leben müsse, und verwe r fen Freude und Bequemlichkeit und Anpassung, um mit dem Göttlichen Verbi n dung aufnehmen zu können.«
Paulette bringt auf einem Tablett das Mittagessen, aber Misty will nichts davon. Hinter ihren geschlossenen L i dern hört sie den Arzt essen. Das Kratzen von Messer und Gabel auf dem Porze l lan teller. Das Klappern der Eiswü r fel im Wasserglas.
Er sagt: »Paulette?« Die Stimme voller Essen, sagt er: »Können Sie die Bilder da an der Tür mitnehmen und zu den anderen in den Speiseraum bringen?«
An einen sicheren Ort.
Man riecht Schinken und Knoblauch. Und irgendwas Schok o ladiges, Pudding oder Kuchen. Man hört den Arzt kauen, das feuc h te Geräusch, wenn er schluckt.
»Interessant wird es«, sagt der Arzt, »wenn man Schmerz als geistiges Werkzeug betrachtet.«
Schmerz und Entbehrung. Die buddhistischen Mönche sitzen, ohne zu essen, ohne zu schlafen, auf Dächern, bis sie in den Z u stand der Erleuchtung geraten. Abgeschi e den, Wind und Sonne ausgesetzt. Denk an den heiligen Simeon, der auf seiner Säule verwest ist. Oder die Jahrhunderte aufrecht stehender Yogis. O der die Initiationsriten der Indianer. Oder die hungernden Am e rikanerinnen im 19. Jahrhundert, die sich aus Frömmigkeit zu Tode gefastet haben. Oder die heilige Veron i ka, die täglich nichts and e res als fünf Apfelsinenkerne zu sich genommen hat, zum Gede n ken an die fünf Wunden Christi. Oder Lord Byron, der gefastet und Einlaufe gemacht hat und her o isch den Hellespont durchschw o mmen ist. Ein romant i scher Magersüchtiger. Moses und Elias im Alten Test a ment, die gefastet haben, um Visionen zu bekommen. Englische Hexen im 17. Jahrhundert, die gefastet haben, um ihre Zauberkraft zu stärken. Oder die tanzenden Derwische, die sich zwecks E r leuchtung verausgaben.
Der Arzt redet und redet immer weiter.
Alle diese Mystiker, überall in der Geschichte und übe r all auf der Welt, sie alle haben ihren Weg zur Erleuchtung durch kö r perliches Leiden gefunden.
Und Misty malt immer weiter.
»Und jetzt wird's interessant«, sagt die Stimme des Arztes. »Nach der Theorie vom zweigeteilten Hirn besteht das Gehirn aus zwei Hälften, wie eine Walnuss.«
Die linke Hälfte des Gehirns ist zuständig für Logik, Sprache, Berechnung und Rationalität, sagt er. Diese Häl f te wird von den Menschen als ihre persönliche Identität wahrgenommen. Sie ist die bewusste, rationale, alltägliche Basis unserer Realität.
Die rechte Seite des Gehirns, erklärt ihr der Arzt, ist das Zen t rum für Intuition, Emotion, Verständnis und die F ä higkeit zum Erke n nen von Mustern. Das Unterbewusste.
»Die linke Gehirnhälfte ist ein Wissenschaftler«, sagt der Arzt. »Die rechte Gehirnhälfte ist ein Künstler.«
Er sagt, die Menschen leben ihr Leben aus der linken Gehir n hälfte heraus. Nur wenn jemand extreme Schme r zen hat, oder wenn jemand sehr krank oder sehr durche i nander ist, kann das Unterbewusste ins Bewusstsein geraten. Wenn jemand verwu n det oder krank ist, wenn j e mand traurig oder deprimiert ist, kann die rechte Gehir n hälfte für kurze Zeit die Oberhand gewinnen und dem Betroffenen Zugang zu göttlicher Inspiration gewä h ren.
Ein Aufblitzen von
Weitere Kostenlose Bücher