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Das Letzte Protokoll

Das Letzte Protokoll

Titel: Das Letzte Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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zurückweichen, als Misty zum Speis e raum getragen wird. Hier sind die alten Inselfamilien versammelt, die Burtons und Hylands und Petersens und Perrys. Kein einziges Sommergesicht ist daru n ter.
    Dann schwingt die Tür zum Goldenen Salon auf.
    Auf Tisch sechs, einem Viersitzer am Fenster, liegt etwas unter einer Decke. Das Profil eines kleinen Gesichts, die flache Brust eines kleinen Mädchens. Und Grace' Stimme sagt: »Schnell, s o lange sie noch bei Bewusstsein ist. Sie muss das sehen. Zi e hen Sie die Decke weg.«
    Eine Enthüllung. Ein Vorhang, der sich öffnet.
    Und hinter Misty drängen sich alle ihre Nachbarn und gaffen.

7. August
    Auf der Kunstakademie hatte Peter einmal Misty aufg e fordert, eine Farbe zu nennen. Irgendeine Farbe.
    Er sagte ihr, sie solle die Augen zumachen und stillha l ten. Man konnte spüren, wie er näher kam, sehr nahe. Se i ne Wärme. Man konnte seinen aufribbelnden Pullover riechen, den Geruch seiner Haut: wie Zartbitterschokol a de. Sein Selbstporträt. Seine Hände fassten den Stoff ihrer Bluse, und eine kalte Nadel kratzte über die Haut darunter. Er sagte: »Nicht bewegen, sonst st e che ich dich aus Versehen noch.«
    Und Misty hielt die Luft an.
    Kriegst du das mit?
    Immer, wenn sie sich trafen, schenkte Peter ihr eines seiner Schrottschmuckstücke. Broschen, Armbänder, Ringe und Hal s ketten.
    Misty wartete mit geschlossenen Augen und sagte: »Gold. Die Farbe Gold.«
    Peter fummelte die Nadel durch den Stoff. Er sagte: »Jetzt nenn mir drei Wörter, die Gold beschreiben.«
    Das sei eine alte Methode der Psychoanalyse, erklärte er ihr. E r funden von Carl Gustav Jung. Die Methode basiere auf univers a len Archetypen. Eine Art gelehrtes Partyspiel. Carl Gustav Jung. Archetypen. Das ungeheure gemeinsame Unterbewusste der ganzen Menschheit. Jainas und Yogis und Asketen, das war die Ku l tur, mit der Peter auf Waytansea Island aufgewachsen war.
    Die Augen geschlossen, sagte Misty: »Glänzend. Schwer. Weich.« Ihre drei Wörter, die Gold beschrieben.
    Peters Finger ließen die winzige Schließe der Brosche z u schnappen, und seine Stimme sagte: »Gut.«
    In diesem früheren Leben, auf der Kunstakademie, forderte P e ter sie einmal auf, ein Tier zu nennen. Irgendein Tier.
    Nur um das festzuhalten: Die Brosche war eine vergoldete Schildkröte mit einem dicken, rissigen grünen Edelstein als Pa n zer. Kopf und Beine waren beweglich, aber ein Bein fehlte. Das Metall war so angelaufen, dass es schon schwarz auf ihre Bluse abfärbte.
    Und Misty zog die Brosche von ihrer Brust, betrachtete sie und war ohne jeden Grund entzückt. Sie sagte: »Eine Taube.«
    Peter trat einen Schritt zurück und winkte ihr mitz u kommen. Sie gingen zwischen struppig mit Efeu bewachsenen Backstei n gebä u den über den Campus. Peter sagte: »Jetzt nenn mir drei Wörter, die eine Taube beschreiben.«
    Misty versuchte ihn bei der Hand zu nehmen, aber er hielt seine Hände hinterm Rücken verschränkt.
    Misty sagte: »Schmutzig.« Sie sagte: »Dumm. Hässlich.«
    Ihre drei Wörter, die eine Taube beschrieben.
    Und Peter sah sie an, die Unterlippe zwischen den Zä h nen, und sein Corrugator quetschte ihm die Augenbrauen zusa m men.
    In diesem früheren Leben, auf der Kunstakademie, forderte P e ter sie auf, ein Gewässer zu nennen.
    Misty ging neben ihm her und sagte: »Der Sankt-Lorenz-Seeweg.«
    Er drehte sich zu ihr um. Er war stehen geblieben. »Nenn mir drei Adjektive, die den beschreiben«, sagte er.
    Und Misty verdrehte die Augen und sagte: »Belebt, schnell und überfüllt.«
    Und Peters Levator-labii-superioris-Muskel verzog seine Obe r lippe zu einem spöttischen Grinsen.
    Dann gingen sie weiter, und er fragte sie nur noch eines. Peter sagte, sie solle sich vorstellen, sie sei in einem Zimmer. Alle Wände sind weiß, es gibt weder Fenster noch Türen. Er sagte: »Beschreib mir mit drei Wörtern, wie di e ses Zimmer auf dich wirkt.«
    Misty war noch nie so lange mit einem Jungen gegangen. S o weit sie wusste, war das die gewissermaßen verschleie r te Art, in der Liebende sich miteinander unterhielten. So wie sie wusste, dass Peters Lieblingseis das mit Kürbisk u chengeschmack war, kam sie nicht auf die Idee, dass seine Fragen irgendetwas bede u ten kön n ten.
    Misty sagte: »Zeitweilig. Vorübergehend.« Sie überlegte und sagte: »Verwirrend.«
    Ihre drei Wörter, die ein vermauertes weißes Zimmer beschri e ben.
    In ihrem früheren Leben - sie gingen nebeneinander her, ohne Händchen zu halten

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