Das Letzte Protokoll
Veranda. Sie lasen Tabbi vor, bis sie ei n schlief. Sie knarrten in den alten Korbsesseln, und die Motten schwärmten um die V e randalampen herum. Tief im Innern des Hauses schlug eine Uhr die Stunde. Aus dem Wald hinterm Dorf drang der Ruf einer Eule.
Die Orte auf dem Festland jenseits des Wassers waren überla u fen, und überall sah man Reklame für Stadtpr o dukte. Die Leute aßen billiges Essen auf der Straße und warfen ihren Müll auf den Strand. Dass die Insel niemals Pein bereitete, hatte e i nen Grund: Es gab dort nichts zu tun. Es gab keine Zimmer zu vermieten. Kein Hotel. Keine Sommerhäuser. Keine Partys. Man konnte sich nichts zu essen kaufen, weil es keine Restaurants gab. Niemand verkaufte handbemalte Muscheln, auf die in goldener Schrift »Waytansea Island« geschrieben war. Die Strände auf der Oz e anseite waren felsig . .. und zum Festland hin gab es nur Schlamm und Auster n bänke.
Etwa um diese Zeit beschloss der Gemeinderat, das geschloss e ne Hotel wieder aufzumachen. Eine verrückte Idee, die let z ten Vermögensreste sämtlicher Inselfamilien dafür aufzuwe n den, die ausgebrannte, verfallende Ruine auf dem Hügel über dem Hafen wieder instand zu setzen. Die letzten Ressourcen zu ve r geuden, um Touristenscharen anzulocken. Die nächste Generat i on dazu zu ve r dammen, als Kellner und Zimmermädchen zu arbeiten und Souvenirkacke auf Muscheln zu pinseln.
Es ist schon schwer, Schmerzen zu vergessen, aber noch schw e rer ist es, sich an Angenehmes zu erinnern.
Glück hinterlässt keine Narben. Aus Frieden lernen wir nicht viel.
Zusammengerollt auf der Steppdecke, die schon mehreren G e nerationen gedient hatte, konnte Misty ihre Tochter in die Arme nehmen. Konnte ihr Baby halten, ihren Körper um Tabbi schmi e gen, als wäre sie noch in ihr drin. Noch ein Teil von ihr. Unster b lich.
Der säuerliche Milchgeruch Tabbis, ihres Atems. Der süße G e ruch des Babypuders, fast wie Puderzucker. Mistys Nase am warmen Hals ihres Babys.
In diesen Jahren hatten sie keinen Grund zur Eile. Sie waren jung. Ihre Welt war sauber. Sonntags in die Kirche. Bücher lesen, ausgiebig in der Wanne sitzen. Beeren pflücken und Gelee da r aus kochen, am Abend, wenn bei g e öffneten Fenstern ein kühler Wind in die weiße Küche strich. Die aktuelle Mondphase wus s ten sie immer, aber selten den Wochentag.
In diesen wenigen Jahren sah Misty ihr Leben nicht als Zweck. Sondern als Mittel für die Zukunft.
Sie stellten Tabbi an den Rahmen der Eingangstür. An all die vergessenen Namen, die dort immer noch standen. Diese längst gestorbenen Kinder. Mit Filzstift markierten sie Tabbis Größe.
Tabbi mit vier Jahren. Tabbi mit acht Jahren.
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist leicht rührselig.
Jetzt, am Gaubenfenster ihres Dachgeschosszimmers im Hotel Waytansea, liegt die Insel unter ihr ausgebreitet da, ve r schmutzt von Fremden und Werbebotschaften. Von Plakaten und Neonr e klamen. Logos. Markennamen.
Das Bett, auf dem Misty sich um Tabbi schmiegte, sie in sich zu behalten versuchte. Jetzt schläft dort Angel Delaporte. Ein Ve r rückter. Der ihr dauernd nachschleicht. In ihrem Zimmer, auf ihrem Bett unter dem Fenster, vor dem die Ozean wellen ra u schen und sich brechen. Peters Haus.
Unser Haus. Unser Bett.
Bis zu Tabbis zehntem Geburtstag stand das Hotel W a ytansea verschlossen und leer da. Die Fenster allesamt mit Brettern z u genagelt. Die Türen ebenso.
Als Tabbi zehn Jahre alt wurde, in jenem Sommer wurde das Hotel wieder eröffnet. Aus den Inselbewohnern wu r de ein Heer von Pagen und Kellnern, Zimmermädchen und Empfangsd a men. Es war das Jahr, in dem Peter als Maurer auf dem Festland zu arbeiten anfing. Kleine U m bauarbeiten für Sommerfrischler, die zu viele Häuser besaßen, um sich um jedes einzelne kü m mern zu können. Als mit der Eröffnung des Hotels die Fähre i h ren stündl i chen Betrieb aufnahm, wurde die Insel mit Touristen und Autos übe r schwemmt.
Dann kamen die Pappbecher und Hamburgerkartons. Die A u toalarmanlagen, die langen Schlangen auf Parkplatzsuche. Die g e brauchten Windeln, die die Leute im Sand liegen ließen. Die Insel verkam immer mehr, bis zu jenem Jahr, in dem Tabbi dre i zehn wurde, in dem Misty in die Garage ging und Peter schl a fend im Auto fand, der Benzintank leer. Bis plötzlich Leute anri e fen und sagten, ihr Wäschezimmer sei weg, ihr Gästezimmer sei ve r schwunden. Bis Angel Delaporte genau dort ist, wo er immer hatte sein wollen. Im
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