Das Letzte Protokoll
aufschneiden kann. Und sie will, dass Paulette nichts mitbekommt, wenn das Me s ser nach dem Essen vom Tablett verschwunden ist. Paule t te bekommt es nicht mit, und sie schließt auch nicht die Tür von außen ab. Wozu sich die Mühe machen, wenn Misty doch eine Tonne Fiberglas am Bein hat.
Die ganze Nacht über liegt Misty auf dem Bett und sägt und hackt an ihrem Verband herum. Bohrt und schnipselt mit der Messerklinge, fegt die Fiberglasbröckchen mit der Hand zusa m men und wirft sie unters Bett.
Misty ist eine Gefangene, die sich aus einem sehr kleinen G e fängnis herausgräbt, einem Gefängnis, das Tabbi mit Blumen und Vögeln bemalt hat.
Bis Mitternacht hat sie sich von der Hüfte bis zum halben Obe r schenkel vorgearbeitet. Das Messer rutscht ständig ab, piekt und sticht ihr in die Seite. Als sie am Knie a n kommt, schläft sie ein. In einer Kruste aus Blut. Am Laken festgeklebt. Um drei Uhr mo r gens hat sie erst einen Teil der Wade geschafft. Bald wäre sie frei, aber sie schläft wieder ein.
Mit dem Messer in der Hand wacht sie auf.
Wieder mal ein längster Tag des Jahres.
Das Geräusch, das sie geweckt hat, ist das Zuschlagen einer A u totür auf dem Parkplatz. Wenn Misty den aufgetrennten Ve r band zusammenhält, kann sie ans Fenster humpeln und nachs e hen. Es ist der beige Dienstwagen von Detective Stilton. Draußen ist er nicht zu sehen, also muss er bereits im Foyer des Hotels sein. Vie l leicht sucht er sie.
Vielleicht findet er sie diesmal.
Misty macht sich mit dem Steakmesser wieder an die Arbeit. Im Halbschlaf hackt sie los und sticht sich in den Wadenmu s kel. Blut strömt hervor, dunkelrot über ihre weiße, weiße Haut, die allzu lange kein Licht mehr ges e hen hat. Sie hackt noch einmal, und wieder sticht sie sich, die Klinge fährt durch die dünne Haut bis auf den Kn o chen.
Und sie hackt weiter, Blut und Fiberglasfetzen fliegen umher. Fragmente von Tabbis Blumen und Vögeln. Fra g mente von Haut und Haaren. Dann packt sie den Verband mit beiden Händen an den aufgesäbelten Kanten und stemmt und bricht ihn auf, bis ihr Bein halb heraus ist. Die schartigen Ränder kne i fen, beißen sich in das zerfleischte Bein, die Fiberglasnadeln bohren sich ihr in die Haut.
O lieber geliebter Peter, dir braucht niemand zu sagen, wie weh das tut.
Kriegst du das alles mit?
Mit Fiberglassplittern in den Fingern packt Misty die schart i gen Kanten und zieht sie auseinander. Sie beugt das Knie, presst es aus dem starren Verband heraus. Erst die bleiche, blutve r schmierte Kniescheibe. Wie der Kopf eines Babys bei der Geburt. Durc h schneiden. Ein Vogel, der aus dem Ei schlüpft. Dann der Oberschenkel. Das Kind wird geboren. Zuletzt bricht das Schie n bein aus dem zertrü m merten Verband. Ein Schütteln, und der Fuß ist frei, und der Verband rutscht, fällt ab und po l tert auf den Boden.
Ein Kokon. Aus dem ein Schmetterling steigt, blutig und e r schöpft. Neugeboren.
Der Verband kracht so laut auf den Boden, dass die Vo r hänge erzittern. Ein gerahmtes Hotelbild klappert an der Wand. Die Hände auf die Ohren gedrückt, wartet Misty, dass jemand nac h schauen kommt, sie befreit findet und dann von außen die Tür abschließt.
Mistys Herz rast. Sie wartet dreihundert Schläge ab, zählt. Aber es geschieht nichts. Niemand kommt.
Langsam, vorsichtig streckt Misty das Bein aus. Beugt das Knie. Probiert. Es tut nicht weh. Sie hält sich am Nachttisch fest, schwingt die Beine vom Bett und winkelt sie an. Sie nimmt das blutige Steakmesser und zerschne i det das Klebeband, mit dem der Katheter an ihrem gesu n den Bein befestigt ist. Sie zieht sich den Schlauch heraus, wickelt ihn auf und legt ihn beiseite.
Zum Schrank sind es eins, drei, fünf Schritte. Sie nimmt eine Bluse. Eine Jeans. Da drin hängt auch, in einer Pla s tikhülle, das weiße Satinkleid, das Grace ihr für die Kunstausstellung genäht hat. Mistys Hochzeitskleid, wiedergeboren. Sie steigt in die Jeans, knöpft zu und zieht den Reißverschluss hoch, und als sie nach der Bluse greift, rutscht ihr die Jeans bis zu den Füßen ru n ter. So sehr hat sie abgenommen. Ihre Hüften sind weg. Ihr Hi n tern b e steht nur noch aus zwei leeren Hautsäcken. Die Jeans liegt ihr um die Knöchel, blutbeschmiert von den Schnittwu n den in beiden Beinen.
Sie findet einen Rock, der passt, aber der gehört nicht ihr. Er gehört Tabbi. Ein karierter Faltenrock, den Grace ausgesucht h a ben muss.
Sogar ihre Schuhe fühlen sich zu weit an, und
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