Das Letzte Protokoll
liere, Misty. Es ist alles vorbei.«
Das hat er auch gesagt, als Tabbi geboren wurde.
Ihre selbst gemachte Unsterblichkeit.
Er sagt: »Es könnte ein paar Tage dauern, bis Sie wieder st e hen können«, und greift ihr von hinten unter die Arme und hebt sie auf die Beine.
Auf dem Fensterbrett hat jemand Tabbis mit Schrot t schmuck gefüllten Schuhkarton stehen lassen. Die gli t zernden, billigen Spiegelscherben, zu Diamantformen geschliffen. Jede Fläche r e flektiert das Licht in eine andere Richtung. Verwirrend. Ein kle i nes Feuer in der vom Meer gespiegelten Sonne.
»Ans Fenster?«, sagt der Arzt. »Oder wären Sie lieber im Bett?«
Statt »im Bett« hört Misty tot.
Das Zimmer ist genau so, wie Misty es in Erinnerung hat. Auf dem Bett liegt Peters Kopfkissen, sein Geruch. Die Bilder sind weg, alle. Misty sagt: »Was haben Sie d a mit gemacht?«
Dein Geruch.
Und Dr. Touchet lotst sie zu einem Stuhl am Fenster. Er setzt sie auf eine über den Stuhl gebreitete Decke und sagt: »Sie haben mal wieder perfekte Arbeit geleistet. Be s ser hätten wir es uns nicht wünschen können.« Er zieht die Vorhänge auf, dahinter erscheinen der Ozean, der Strand. Die Sommerleute, die sich in Pulks zum Wasser drängen. Das Treibgut an der Flutlinie. Ein Stran d traktor tuckert mit einer Walze im Schlepp vorbei. Der rollende Stahlzylinder presst ein schiefes Dreieck in den feuchten Sand. Irgendein Firmenlogo.
Neben dem in den Sand gestempelten Logo kann man lesen: »Die alten Fehler für eine bessere Zukunft nutzen.«
Jemandes verschwommene Losung.
»In einer Woche«, sagt der Arzt, »wird diese Firma ein Verm ö gen dafür bezahlen, ihren Namen von dieser Insel zu l ö schen.«
Was man nicht versteht, kann man deuten, wie man will.
Der Traktor zieht die Walze und schreibt immer wieder die Botschaft in den Sand, bis die Wellen sie fortspülen.
Der Arzt sagt: »Wenn ein Flugzeug abstürzt, zahlen alle Flu g gesellschaften viel Geld, damit ihre Zeitungs-und Fernsehwe r bung eingestellt wird. Haben Sie das gewusst? Niemand will riskieren, mit so einer Katastrophe in Z u sammenhang gebracht zu werden.« Er sagt: »In einer W o che wird auf dieser Insel kein einziges Fi r menlogo mehr zu sehen sein. Die werden alles dafür geben, dass ihr N a me hier nicht mehr zu sehen ist.«
Der Arzt legt Mistys tote Hände in ihrem Schoß zusammen. Balsamiert sie ein. Er sagt: »Ruhen Sie sich jetzt aus. Bald kommt Paulette und nimmt Ihre Bestellung fürs Abendessen entgegen.«
Nur um das festzuhalten. Er geht zu ihrem Nachttisch und nimmt die Flasche mit den Kapseln. Als er geht, lässt er die Fl a sche kommentarlos in seinem Jackett verschwi n den. »Noch eine Woche«, sagt er, »und die ganze Welt wird diese Insel fürchten - und uns in Ruhe lassen.« Er tritt hinaus, ohne die Tür abz u schließen.
In ihrem früheren Leben lebten Peter und Misty irgendwo in New York zur Untermiete, als eines Tages Grace anrief und sa g te, Harrow sei tot. Peters Vater sei tot, und sie, seine Mutter, sei allein in ihrem großen Haus an der Birch Street. Vier Stoc k werke hoch, mit Türmchen und Erkern und einem Gebirge aus D ä chern. Und Peter sagte, sie müssten sich um sie kümmern. Harrows Nachlass regeln. Peter sei zum Verwalter des Erbes eingesetzt wo r den. Nur für ein paar Monate, sagte er. Und dann wurde Misty schwanger.
Sie versicherten sich immer wieder, dass sie später nach New Y ork zurückkehren wollten. Und dann waren sie Eltern.
Nur um das festzuhalten, Misty konnte sich nicht bekl a gen. Das war eine schöne kleine Episode, die ersten Jahre nach Tabbis G e burt, da konnte Misty sich mit ihr auf dem Bett zusammenk u scheln, und mehr verlangte sie nicht von der Welt. Dass sie Tabbi hatte, stellte sicher, dass Misty dazugehörte, zum Wilmot-Klan, zur Insel. Misty fühlte sich rundum glücklich und zudem mehr mit sich im Frieden, als sie jemals für möglich g e halten hatte. Die Wellen am Strand vorm Schlafzimmerfen s ter, die stillen Straßen. Die Insel war so weit von der Welt entfernt, dass man aufhören konnte, noch etwas anderes haben zu wollen. Etwas zu bra u chen. Sich Sorgen zu machen. Etwas zu wünschen. Immer noch etwas mehr zu erwarten.
Sie hörte auf zu malen und Dope zu rauchen.
Sie brauchte nichts zu leisten, nichts zu werden, nichts zu fli e hen. Einfach hier zu sein, das war genug.
Die stillen Rituale des Abwaschs, des Wäschezusamme n legens. Wenn Peter nach Hause kam, setzten sie sich mit Grace auf die
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