Das Letzte Protokoll
Bett ihres Mannes.
In deinem Bett.
Angel liegt in ihrem Bett. Angel schläft mit ihrem Bild von di e sem antiken Sessel.
Misty hat nichts mehr. Keine Tabbi. Keine Inspiration.
Nur um das festzuhalten: Misty hat das niemandem erzählt, aber Peter hatte einen Koffer gepackt und im Koffe r raum des Autos versteckt. Damit er in der Hölle was zum Umziehen hatte. Das hatte sie nicht verstanden. Im Gru n de hatte sie kaum etwas von dem verstanden, was Peter in den drei vorausgega n genen Jahren getan hatte.
Vor ihrem kleinen Dachfenster, unten am Strand, plantschen Kinder in den Wellen. Ein Junge trägt ein weißes Rüschenhemd und eine schwarze Hose. Er redet mit e i nem anderen Jungen, der nur eine Fußballhose anhat. Sie rauchen abwechselnd eine Zig a rette, reichen sie hin und her. Der in dem weißen Rüschenhemd hat schwarzes Haar, das gerade lang genug ist, dass er es sich hinter die Ohren streichen kann.
Auf dem Fensterbrett steht der Schuhkarton mit Tabbis Schrot t schmuck. Die Armreifen, die verwaisten Ohrringe, die ve r schrammten alten Broschen. Peters Schmuck. Klappert in der Schachtel herum, zusammen mit losen Plastikperlen und Glasd i amanten.
Misty blickt aus dem Fenster auf den Strand hinunter, wo sie Tabbi zum letzten Mal gesehen hat. Wo es passiert ist. Der Ju n ge mit dem kurzen dunklen Haar trägt einen Ohrring, irgen d was Glitzerndes in Gold und Rot. Und ohne dass es jemand hören kann, sagt Misty: »Tabbi.«
Sie umklammert das Fensterbrett und schiebt Kopf und Schu l tern hinaus und ruft: »Tabbi?« Misty hängt schon halb aus dem Fenster, fünf Stockwerke tief könnte sie auf die Hotelterrasse stürzen. Sie schreit: »Tabbi!«
Und richtig. Es ist Tabbi. Mit kurz geschnittenen Haaren. Fli r tet mit einem Jungen. Raucht.
Der Junge pafft bloß an der Zigarette und gibt sie zurück. Er wirft die Haare nach hinten und nimmt lachend eine Hand vor den Mund. Sein Haar im Ozeanwind, eine fla t ternde schwarze Fahne.
Die Wellen rauschen und brechen.
Ihr Haar. Dein Haar.
Als Misty sich durch das kleine Fenster zwängt, kippt der Schuhkarton von der Kante und rutscht das Dach hi n unter. Er schlägt auf die Regenrinne und dreht sich, die Schmuckstücke fliegen umher. Im Fallen blitzen sie rot und gelb und grün, bli t zen hell wie Feuerwerk und stü r zen dorthin, wohin auch Misty gleich stürzen könnte, auf den Betonboden der Hotelterrasse.
Nur der zentnerschwere Beinverband, ihr in Fiberglas gehülltes Bein verhindert, dass sie kopfüber aus dem Fenster fällt. Dann schließen sich zwei Arme um sie, und jemand sagt: »Misty, nein.« Jemand zieht sie zurück. Pa u lette. Ein Tablett mit Essen ist auf den Fußboden gefallen. Paulettes Arme umschlingen sie von hinten. Paulettes Hände fassen einander, und sie reißt Misty he r um, dreht sie um das massive Gewicht des starren Beins und wirft sie mit dem Gesicht nach unten auf den mit Farbe bekl e ckerten Teppich.
Keuchend, keuchend schleppt Misty ihr gewaltiges Fibergla s bein, ihre Fußfessel, zum Fenster zurück und sagt: »Das war Tabbi.« Misty sagt: »Da draußen.«
Ihr Katheter ist wieder einmal herausgerutscht, überall ist Urin verspritzt.
Paulette rappelt sich hoch. Sie macht ein angewidertes G e sicht, die Risorius-Muskeln zurren ihre Haut fest um die Nase zusa m men, als sie sich die Hände an ihrem dunklen Rock a b wischt. Sie stopft ihre Bluse in den Rock zurück und sagt: »Nein, Misty. Nein, das war sie nicht.« Und fängt an, das Essen vom Boden aufz u sammeln.
Misty muss da runter. Nach draußen. Sie muss Tabbi finden. Paulette muss ihr mit dem Verband helfen. Sie müssen Dr. To u chet holen, der soll ihn ihr abnehmen.
Aber Paulette schüttelt den Kopf und sagt: »Wenn der Ve r band jetzt abgenommen wird, sind Sie für den Rest Ihres L e bens ein Krüppel.« Sie geht ans Fenster und macht es zu. Sie schließt es und zieht die Vorhänge vor.
Und Misty, immer noch am Boden, sagt: »Bitte. Paulette, he l fen Sie mir hoch.«
Paulette aber klopft nur unwillig mit dem Fuß. Sie zieht einen Bestellblock aus der Seitentasche ihres Rocks und sagt: »Seeh e ring ist ausgegangen.«
Und nur um das festzuhalten, Misty ist immer noch g e fangen.
Misty ist gefangen, aber ihr Kind lebt womöglich noch.
Dein Kind.
»Ein Steak«, sagt Misty.
Misty will das dickste Stück Fleisch, das sich auftreiben lässt. Gut durchgebraten.
24. August
Was Misty eigentlich will, ist ein Steakmesser. Ein Sägeme s ser, mit dem sie den Verband
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