Das letzte Relikt
er, obwohl er merkte, dass nichts von dem einen Sinn für sie ergab. Vor ein paar Sekunden hatte sie noch geglaubt, der Innenarchitekt sei bei ihr.
»Alles, was ich weiß«, sagte sie und machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum mit einschloss, »ist, dass das alles verschwinden muss. Wir müssen hier streichen, neuen Teppichboden verlegen lassen und Platz schaffen für die Babywiege!«
Ihr Bademantel war ihr von der Schulter gerutscht, als sie so wild gestikulierte, und entsetzt stellte Ezras fest, dass ihr Schulterblatt mit blauen Flecken übersät war. Es sah aus, als hätte jemand sie viel zu heftig mit den Händen gepackt, und bei der Vorstellung, dass dieser Jemand sein Vater gewesen sein könnte, wurde ihm eindeutig mulmig.
Es musste sein Vater gewesen sein, wer denn sonst?
»Was führst du hier überhaupt im Schilde?«, fragte Kimberly und setzte sich in Richtung Zeichentisch in Bewegung. »Das hier nennst du also deine Forschung?«
Hastig baute Ezra sich zwischen ihr und dem Tisch auf. In ihrem gegenwärtigen Zustand ließ sich nicht vorhersagen, was sie tun würde.
»Ja, und es darf nichts durcheinandergebracht werden«, sagte er.
»Wer sagt das?«, erwiderte sie, langte um ihn herum und riss den Stoff vom Abschnitt der Schriftrolle, den er gerade übersetzte.
Ezra packte ihr Handgelenk. »Ich habe gesagt, dass du aufhören sollst.«
»Du hast mir nicht zu sagen, was ich machen soll!«
»Kimberly, du bist krank«, sagte er und versuchte sie zu beruhigen. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in dein Zimmer zurückgehen und den Arzt rufen.«
»In Ordnung«, sagte sie, plötzlich gefügig, »du hast recht«, aber kaum hatte er ihr Handgelenk losgelassen, machte sie einen Satz auf den Tisch zu und schnappte sich ein Stück der kostbaren Schriftrolle.
»Kimberly, nein!«, schrie er.
Ehe er sie aufhalten konnte, war sie davongetänzelt. Mit einem irren Grinsen im Gesicht wedelte sie mit dem Streifen herum. »Komm doch und hol es dir!«
Sie rannte auf die Terrassentür zu, und Ezra hatte keine andere Wahl, als ihr nachzulaufen und sie erneut zu packen. Sie wirbelte herum, bis der Bademantel ganz aufging. Darunter war sie nackt, und als sie mit den Händen auf ihn losging und ihn wie wahnsinnig kratze und um sich schlug, stellte Ezra fest, dass sie am ganzen Körper noch weitere blaue Flecken hatte. Was um alles in der Welt war ihr zugestoßen?
»Lass mich los!«, kreischte sie. »Lass los!«
Aber Ezra versuchte lediglich, das Stückchen Schriftrolle wieder an sich zu bringen. Sie hielt es außer Reichweite, dann krümmte sie sich und wirbelte herum. Er sah, wie sie vergeblich versuchte, es zu zerreißen.
»Hör auf, Kimberly!«
Aber sie hörte nicht auf. Sie nahm den Fetzen zwischen ihre Zähne und zerrte daran – und es war, als hätte sie in einen unter Strom stehenden Draht gebissen. Eine Woge aus blauen Funken schoss in die Luft und summte wie ein Schwarm wütender Bienen. Sie stürzte zu Boden, ein winziges Stück der Schriftrolle klebte noch an ihrer Lippe. Ihre Glieder zuckten, und weißer Schaum trat ihr aus dem Mund.
Ezra kniete sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter und versuchte mit der anderen, das Stück seiner kostbaren Schriftrolle zu entfernen. Doch wie eine Schlange, die sich in ihre Höhle zurückzog, verschwand das Fitzelchen in ihrem Mund. Er sah, wie ihre Kehle zuckte, als würde das Stück Schriftrolle sich noch weiter zurückziehen. Oder hatte er sich das alles nur eingebildet?
Kimberly keuchte und würgte. Ihr ganzer Körper wand sich in Krämpfen.
Ezra wusste nicht, was er tun sollte. Er sagte: »Halt durch«, und rannte aus dem Arbeitszimmer, durch sein Schlafzimmer und riss die Tür zum Flur auf. »Gertrude!«, rief er. »Gertrude!«
»Ja?« Es klang, als sei sie vier oder fünf Räume entfernt.
»Ruf den Notarzt für Kimberly. Wir brauchen einen Krankenwagen!«
Als er wieder an ihrer Seite war, sah sie aus, als sei sie gerade ins Koma gefallen. Ihr Blick war glasig und die Atmung sehr flach. Ihr Körper im geöffneten Bademantel war seinem Blick preisgegeben. Direkt unterhalb ihrer Brüste entdeckte er schwarze und blaue Flecken, als sei sie grob misshandelt worden. Er zog den Mantel zu und strich ihr über die Stirn. »Ruh dich einfach aus«, sagte er. »Alles wird wieder gut.« Ihre Haut war schweißnass, aber fiebrig heiß. Ezra fragte sich nicht nur, ob sie wieder gesund werden würde, sondern ob sie überhaupt so lange überleben würde, bis
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