Das letzte Revier
um, um zu sehen, was ich mache. Oben an der Treppe hole ich ihn wieder ein, und wir betreten ein hell erleuchtetes Wohnzimmer, das mit schlichten moderne n Möbeln und indianischen Teppichen ansprechend eingerichtet ist.
»Wann warst du das letzte Mal Angeln?«, frage ich Marino. »Nicht in Süßwasser«, erwidert er. »Nicht mehr in dieser Gegend dieser Tage.«
»Genau.« Plötzlich wird mir bewusst, dass ich eine der drei Personen, die neben dem großen Wohnzimmerfenster stehen, kenne. Mein Herz setzt für einen Schlag aus, als sich der vertraute dunkle Kopf mir zuwendet und ich mich auf einmal Jay Talley gegenübersehe. Er lächelt nicht, sein Blick ist durchdringend, als verschössen seine Augen Pfeile. Marino gibt einen kaum hörbaren Laut von sich, der wie das Stöhnen eines kleinen primitiven Tiers klingt. Auf diese Weise lässt er mich wissen, dass Jay der letzte Mensch ist, mit dem er zu tun haben will. Ein zweiter Mann in Anzug und mit Krawatte ist jung und lateinamerikanischer Abstammung, und als er eine Kaffeetasse abstellt, sieht man ein Schulterholster mit einer großkalibrigen Pistole unter seinem Jackett.
Die dritte Person ist eine Frau. Sie legt nicht das erschütterte, konfuse Verhalten von jemandem an den Tag, dessen Lebensgefährte vor kurzem umgebracht wurde. Sie ist außer sich, das wohl. Aber sie hat ihre Gefühle unter Kontrolle, und ich erkenne das Lodern in ihren Augen und die zornig zusammengebissenen Zähne wieder. Ich habe diesen Ausdruck bei Lucy gesehen, bei Marino und anderen, die mehr als nur trauern, wenn einer Person, die sie mögen, etwas Schlimmes zugestoßen ist. Polizisten. Polizisten reagieren nach dem Motto Auge um Auge, wenn einem der ihren etwas passiert. Mitch Barbosas Freundin, so vermute ich sofort, ist Polizistin, möglicherweise arbeitet sie verdeckt. Innerhalb weniger Minuten hat sich das Szenario auf dramatische Weise verändert. »Das hier ist Bunk Pruett, FBI«, stellt Stanfield vor. »Jay Talley, ATF.« Jay schüttelt mir die Hand, als wären wir uns noch nie begegnet. »Und Jilison McIntyre.« Ihr Händedruck ist kühl, abe r fest. »Ms. McIntyre ist auch vom ATF.«
Wir nehmen Stühle und arrangieren sie so, dass wir uns alle gegenseitig ansehen können. Die Atmosphäre ist hart, zornerfüllt. Ich kenne diese Stimmung. Ich habe sie oft erlebt, wenn ein Polizist umgebracht wurde. Nachdem Stanfield die Bühne vorbereitet hat, versteckt er sich hinter einem Vorhang verdrossenen Schweigens. Bunk Pruett nimmt die Sache in die Hand, typisch FBI. »Dr. Scarpetta, Captain Marino«, beginnt er. »Ich brauche es nicht zu sagen: Es handelt sich um eine höchst sensible Angelegenheit. Um ehrlich zu sein, ich sage nicht gern, worum es geht, aber Sie müssen wissen, womit Sie es zu tun haben.« Seine Kiefermuskeln treten hervor. »Mitch Barbosa ist - war - ein Undercoveragent des FBI. Er ermittelte hier in der Gegend in einer großen Sache, die wir jetzt natürlich abblasen müssen, zumindest teilweise.«
»Drogen und Waffen«, sagt Jay und blickt von Marino zu mir.
24
»Wurde Interpol eingeschaltet?« Ich verstehe nicht, warum Jay Talley hier ist. Vor knapp zwei Wochen arbeitete er noch in Frankreich.
»Das sollten Sie eigentlich wissen«, sagt Jay mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein. »Der nicht identifizierte Tote, wegen dem Sie Interpol kontaktiert haben, der Mann, der in dem Motel umkam? Wir haben möglicherweise eine Ahnung, wer er ist. Ja, Interpol wurde eingeschaltet. Wir sind mit dabei.«
»Ich wusste gar nicht, dass Interpol geantwortet hat.« Marino versucht nicht einmal, höflich zu Jay zu sein. »Sie wollen mir also erzählen, dass der Typ aus dem Motel irgendein international gesuchter Verbrecher oder so was Ähnliches ist?«
»Ja«, sagt Jay. »Rosso Matos, achtundzwanzig Jahre alt, geboren in Kolumbien, Südamerika. Zuletzt lebend gesehen in Los Angeles. Auch bekannt als die Katze, weil er sich absolut lautlos verhält, wenn er irgendwo jemanden umbringt. Das ist seine Spezialität, Leute umbringen. Er war ein professioneller Killer. Matos steht in dem Ruf, teure Kleider und Autos zu mögen - und junge Männer. Aber ich sollte wohl besser in der Vergangenheitsform von ihm reden.« Jay hält inne. Niemand sagt etwas, alle sehen ihn an. »Was keiner von uns weiß, ist, was er hier in Virginia wollte«, fügt er hinzu. »Worum genau ging es bei Ihren Ermittlungen?«, fragt Marino Jilison
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