Das letzte Revier
die Mittagszeit, vor dem Essen«, beginnt sie. »Kurz vor zwölf ist er aus dem Haus und nicht mehr zurückgekommen. Das war gestern. Gegen zwei bin ich mit dem Auto losgefahren, um ihn zu suchen. Als ich keine Spur von ihm entdeckte, rief ich die Polizei und natürlich unsere Leute. ATF und FBI. Agenten, die in der Gegend zu tun hatten, kamen und suchten auch. Nichts. Wir wissen, dass er in der Nähe der juristischen Fakultät gesehen wurde.«
»Marshall-Wythe?«, frage ich.
»Ja, bei der William and Mary. Mitch lief normalerweise immer die gleiche Strecke, von hier die Route 5 entlang, dann auf der Francis Street zur South Henry und wieder zurück. Ungefähr eine Stunde.«
»Erinnern Sie sich, was er anhatte und eventuell bei sich trug?«, frage ich sie.
»Einen roten Jogginganzug und eine Weste. Über dem Jogginganzug trug er eine Daunenweste. Grau, Marke North Face. Und seinen kleinen Rucksack. Er ging nirgendwohin ohne diesen Rucksack.«
»Befand sich eine Waffe darin?«, fragt Marino. Sie nickt, schluckt, ihr Gesicht stoisch. »Waffe, Geld, Handy, Hausschlüssel.«
»Er trug keine Daunenjacke, als seine Leic he gefunden wurde«, sagt Marino zu ihr. »Keinen Rucksack. Beschreiben Sie den Schlüssel.«
»Die Schlüssel«, korrigiert sie ihn. »Er hatte einen Schlüssel für hier, für das Haus und seinen Autoschlüssel an einem Stahlring.«
»Wie sieht der Schlüssel für das Haus aus?«, frage ich und spüre, dass Jay mich anstarrt.
»Ein einfacher Messingschlüssel. Ganz normal.«
»Er hatte einen rostfreien Stahlschlüssel in der Tasche seiner Shorts«, sage ich. »Darauf steht mit Magic Marker zweidreidrei.«
Agentin Mclntyre runzelt die Stirn. Sie weiß nichts darüber. »Das ist wirklich seltsam. Ich habe keine Ahnung, wofür dieser Schlüssel sein könnte«, sagt sie.
»Wir müssen also davon ausgehen, dass er verschleppt wurde«, sagt Marino. »Er wurde gefesselt, geknebelt, gefoltert, nach Richmond gefahren und dort in einer Straße in einem unserer schönen Sozialbaugebiete abgeladen, in Mosby Court.«
»Eine Gegend mit starkem Drogenhandel?«, fragt Pruett ihn. »O ja. Die Sozialbaugebiete sind wirtschaftlich ganz erstaunlich im Kommen. Waffen und Drogen. Keine Frage.« Marino kennt sein Revier. »Aber noch netter an Gegenden wie Mosby Court ist, dass die Leute nichts mitkriegen. Wenn man eine Leiche abladen will, können fünfzig Leute daneben stehen. Sie leiden alle unter zeitweiser Blindheit, unter Amnesie.«
»Also jemand, der sich in Richmond auskennt«, äußert sich endlich Stanfield.
McIntyres Augen sind weit aufgerissen. Sie sieht betroffen aus. »Dass er gefoltert wurde, habe ich nicht gewusst«, sagt sie zu mir. Ihr professioneller Schutzschild zittert wie ein Baum, der gleich fallen wird.
Ich beschreibe Barbosas Verbrennungen, ebenso die Verbrennungen, die Matos Leiche aufwies. Ich schildere die Anzeichen, die auf Fesseln und Knebel schließen lassen, und dann beschreibt Marino die großen Ösenschrauben in der Decke des Motelzimmers. Alle Anwesenden begreifen, wovon wir reden. Sie können sich vorstellen, was den beiden Männern angetan wurde. Wir müssen annehmen, dass dieselbe Perso n oder dieselben Personen für ihren Tod verantwortlich sind. Aber wir haben keine Ahnung, wer oder warum. Wir wissen nicht, wohin Barbosa gebracht wurde, aber ich habe eine Idee.
»Wenn du mit Vander dort bist«, sage ich zu Marino, »solltest du dir vielleicht die anderen Zimmer ansehen, ob noch irgendwo Ösenschrauben angebracht sind.«
»Mach ich. Muss sowieso wieder zurück.« Er blickt auf seine Uhr. »Heute?«, fragt Jay. »Ja.«
»Gibt es Grund zu der Annahme, dass Mitch unter Drogen stand wie Matos?«, fragt mich Pruett.
»Ich habe keine Einstichstellen gefunden«, erwidere ich. »Aber wir müssen die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchungen abwarten.«
»O Gott«, murmelt Mclntyre.
»Und beide haben sich in die Hose gemacht?«, fragt Stanfield. »Passiert das nicht immer, wenn Leute sterben? Sie verlieren die Kontrolle über ihre Blase und machen in die Hose? Mit anderen Worten, ein ganz normaler Vorgang?«
»Ich kann nicht behaupten, dass der Verlust von Urin selten ist. Aber der erste Tote, Matos, hat seine Hose ausgezogen. Er war nackt. Wie es scheint, hat er in die Hose gemacht und sich dann ausgezogen.«
»Das war also, bevor ihm die Verbrennungen beigebracht wurden«, sagt Stanfield.
»Das nehme ich an. Die Verbrennungen wurden ihm nicht durch die Kleidung
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