Das letzte Revier
vermutlich Lucys Vater ist. Ich sage vermutlich, denn was Dorothy anbelangt, würde mich nur eine DNS-Analyse davon überzeugen, dass sie mit ihm im Bett war, als Lucy gezeugt wurde. In vierter Ehe war meine Schwester mit einem Mann namens Farinelli verheiratet, und nach ihm hörte Lucy auf, ihren Nachnamen zu ändern. Abgesehen von meiner Mutter bin ich, soweit ich weiß, die einzig verbliebene Scarpetta.
Marino hält vor einem wunderschönen Tor aus schwarzem Gusseisen, streckt den linken Arm zum Fenster hinaus und drückt auf einen Knopf. Es folgen ein elektronisches Summen und ein lautes Klicken, und das Tor schwingt auf wie die Flügel eines Raben. Ich weiß nicht, warum Anna ihre Heimat aufgegeben hat, um in Virginia zu leben, und warum sie nie geheiratet hat. Ich habe sie nie gefragt, warum sie eine psychiatrische Praxis in dieser bescheidenen Stadt aufgemacht hat, wenn sie sich überall hätte niederlassen können. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich über ihr Leben nachdenke. Gedanken sind merkwürdige Fehlzündungen. Ich steige vorsichtig aus Marinos Pickup und trete auf granitene Pflastersteine. Es ist, als hätte ich Software-Probleme. Alle möglichen Dateien werden unaufgefordert geöffnet und geschlossen, Systemfehler gemeldet. Ich bin mir nicht sicher, wie alt genau Anna ist, ungefähr Mitte siebzig. Soweit ich weiß, hat sie mir nie erzählt, wo sie aufs College ging oder Medizin studierte. Seit Jahren tauschen wir Ansichten und Informationen aus, sprechen aber nur ganz selten über Verletzlichkeiten und andere persönliche Dinge.
Es macht mir plötzlich viel aus, dass ich so wenig über Anna weiß, und ich schäme mich, während ich die sauber geräumte Treppe hinaufsteige, eine Stufe nach der anderen, und mich mit der guten Hand am eiskalten Eisengeländer festhalte. Sie öffnet die Tür, und ihre angespannten Züge werden weich. Ihr Blic k wandert zu meinem dicken Gips in der blauen Schlinge, bevor sie mir in die Augen sieht.
»Kay, ich freue mich so, dich zu sehen«, begrüßt sie mich, wie sie es immer tut.
»Wie geht's denn so, Dr. Zenner!«, ruft Marino. Seine Begeisterung ist übertrieben, weil er beweisen will, wie beliebt und charmant er ist und wie wenig ich ihm bedeute. »Da riecht aber etwas mmmmmmgut. Kochen Sie gerade für mich?«
»Heute Abend nicht, Captain.« Marino und seine Wichtigtuerei beeindrucken Anna nicht. Sie küsst mich auf beide Wangen, achtet auf meinen gebrochenen Arm und umarmt mich nicht allzu fest, aber ich spüre ihre Zuneigung in der leichten Berührung ihrer Finger. Marino stellt meine Taschen in der Halle auf einem wunderschönen Seidenteppich ab. Ein Kristallkronleuchter funkelt wie Eis.
»Sie können Suppe mitnehmen«, sagt sie zu Marino. »Es gibt jede Menge davon. Und sie ist sehr gesund und ohne Fett.«
»Wenn sie nicht fett ist, ist sie mit meinem Glauben unvereinbar. Ich haue ab.« Er vermeidet es, mich anzusehen. »Wo ist Lucy?« Anna hilft mir aus dem Mantel, und es kostet mich Mühe, den Gips aus dem Ärmel zu ziehen, und dann muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich noch immer meinen alten Laborkittel anhabe.
»Da sind ja gar keine Autogramme drauf«, sagt sie, denn niemand hat bislang auf meinem Gips unterschrieben, und so wird es auch bleiben. Anna hat einen trockenen, elitistischen Sinn für Humor. Sie kann sehr komisch sein, ohne auch nur andeutungsweise zu lächeln, und wenn man nicht aufpasst und schnell schaltet, kriegt man den Witz nicht mit.
»Ihr ist ihre Bude nicht gut genug, deswegen ist sie im Jefferson abgestiegen«, bemerkt Marino.
Anna hängt meinen Mantel im Schrank auf. Meine nervöse Energie verlässt mich in Nullkommanichts. Die Depressio n verstärkt ihren Druck in meiner Brust und greift nach meinem Herzen. Marino tut weiterhin so, als wäre ich Luft.
»Natürlich kann sie bei mir wohnen. Sie ist immer willkommen, und ich würde sie sehr gern sehen«, sagt Anna zu mir. Im Lauf der Jahrzehnte ist ihr deutscher Akzent nicht schwächer geworden. Sie hat immer noch einen sehr eckigen Stil und macht ungewöhnliche Verrenkungen, um einen Gedanken auszudrücken; selten benutzt sie Zusammenziehungen. Ich glaube, dass sie lieber Deutsch sprechen würde und nur deswegen Englisch spricht, weil sie keine andere Wahl hat.
Ich sehe Marino durch die offene Tür nach. »Warum bist du hierher gezogen, Anna?«
»Hierher? Du meinst in dieses Haus?« Sie mustert mich.
»Nach Richmond. Warum nach Richmond?«
»Ganz einfach.
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