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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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zu retten. Du hast versucht, Lucy davon abzuhalten, ihres zu zerstören.«
    Gedanken kollidieren, löschen sich gegenseitig aus. Ich erwidere nichts.
    »Sie wollte ihn umbringen«, fährt Anna fort. »Das war eindeutig ihre Absicht.«
    Ich nicke, starre ins Leere, erlebe es noch einmal. Lucy, Lucy. Ich rief mehrmals ihren Namen, versuchte, den mörderischen Bann zu brechen, unter dem sie stand. Lucy. Ich kroch im verschneiten Garten näher zu ihr. Nimm die Pistole runter. Lucy, das willst du doch auch nicht. Bitte. Nimm die Pistole runter. Chandonne wälzte und wand sich, gab schreckliche Laute eines verletzten Tiers von sich, und Lucy kniete im Schnee, in Kampfposition, sie hielt die Pistole zitternd mit beiden Händen und zielte auf seinen Kopf. Dann waren überall um uns herum Füße und Beine. ATF-Agenten und Polizisten in dunklen Kampfanzügen mit Gewehren und Pistolen bewaffnet waren in meinen Garten gestürmt. Keiner von ihnen wusste, was zu tu n war, während ich meine Nichte anflehte, Chandonne nicht kaltblütig zu erschießen. Es ist genug gemordet worden, sagte ich zu Lucy, als ich nur noch ein paar Zentimeter von ihr entfernt war, mein linker Arm gebrochen und nutzlos. Tu es nicht. Tu es nicht, bitte. Wir lieben dich.
    »Du bist absolut sicher, dass Lucy die Absicht hatte, ihn zu töten, obwohl es sich nicht um Notwehr handelte?«, fragt Anna noch einmal.
    »Ja«, sage ich. »Ich bin sicher.«
    »Sollten wir dann nicht noch einmal überlegen, ob es wirklich nötig war, diese zwei Männer in Miami zu erschießen?«
    »Das war etwas völlig anderes, Anna«, entgegne ich. »Und ich kann Lucy nicht verübeln, wie sie reagiert hat, als sie ihn vor meinem Haus sah - ihn und mich auf dem Boden im Schnee, keine drei Meter voneinander entfernt. Sie wusste von den anderen Fällen hier, von den Morden an Kim Luong und Diane Bray. Sie wusste ganz genau, warum er zu mir gekommen war und was er mit mir vorhatte. Wie hättest du an Lucys Stelle reagiert?«
    »Dazu fehlt mir die Fantasie.«
    »Du hast Recht«, sage ich. »Ich glaube, dass niemand sich so etwas vorstellen kann, bis es tatsächlich passiert. Ich weiß nur, wenn ich diejenige gewesen wäre, die Lucy im Garten gesehen hätte, und er hätte versucht, sie umzubringen, dann...« Ich halte inne, analysiere, bin nicht wirklich fähig, den Gedanken zu Ende zu denken.
    »Dann hättest du ihn umgebracht«, beendet Anna meinen unvollständigen Satz.
    »Vielleicht.«
    »Obwohl er keine Bedrohung darstellte? Er hatte schreckliche Schmerzen, war blind und hilflos.« »Es ist schwer zu entscheiden, ob eine andere Person hilflo s ist, Anna. Was wusste ich schon, dort draußen im Schnee, im Dunkeln, mit einem gebrochenen Arm, zu Tode erschrocken?«
    »Ah. Du wusstest genug, um Lucy auszureden, ihn zu erschießen.« Sie steht auf, und ich sehe ihr zu, wie sie eine Suppenkelle von dem eisernen Gestell nimmt, das über dem Herd angebracht ist und an dem auch Töpfe und Pfannen hängen. Sie schöpft Suppe in große Steingutschüsseln, Dampf steigt in aromatischen Wolken auf. Sie stellt die Schüsseln auf den Tisch, gibt mir Zeit, über das eben Gesagte nachzudenken. »Hast du dir schon einmal überlegt, dass sich dein Leben lesen lässt wie einer deiner komplizierteren Totenscheine?« Und dann fügt Anna hinzu: »Auf Grund von, auf Grund von, auf Grund von.« Sie gestikuliert, dirigiert ihr eigenes Orchester der Betonung. »Du befindest dich jetzt hier auf Grund von diesem oder jenem und so weiter, und alles geht zurück auf die eine ursprüngliche Verletzung. Der Tod deines Vaters.« Ich versuche mich zu erinnern, was ich ihr über meine Vergangenheit erzählt habe.
    »Du bist, wer du bist im Leben, weil du schon in sehr jungen Jahren zu einer Studentin des Todes geworden bist«, fährt sie fort. »Den größten Teil deiner Kindheit hast du mit dem Sterben deines Vaters verbracht.«
    Die Suppe ist eine Hühnersuppe mit Gemüse, und ich rieche Lorbeer und Sherry. Ich bin nicht sicher, ob ich sie essen kann. Anna zieht Küchenhandschuhe an und holt Sauerteigbrötchen aus dem Backofen. Sie serviert die heißen Brötchen mit Butter und Honig auf kleinen Tellern. »Es scheint dein Karma zu sein, immer wieder an den Schauplatz zurückkehren zu müssen«, fährt sie in ihrer Analyse fort. »Den Schauplatz des Todes deines Vaters, dieses ursprünglichen Verlusts. Als ob du ihn damit irgendwie ungeschehen machen könntest. Aber letztlich wiederholst du ihn nur. Das älteste

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