Das letzte Revier
Aus Liebe.« Sie sagt es völlig gleichmütig, ohne eine Spur von positiven oder negativen Gefühlen.
Die Temperatur ist gesunken, und Marinos große Stiefel knarzen durch verkrusteten Schnee. »Welche Liebe?«, frage ich. »Jemand, der sich als reine Zeitverschwendung erwiesen hat.«
Marino stößt mit dem Fuß gegen das Trittbrett, um Schnee abzuklopfen, bevor er in seinen vibrierenden Wagen steigt, der Motor brummt wie die Maschine eines großen Schiffs, Abgase quellen aus dem Auspuff. Er spürt, dass ich ihn beobachte, und als er die Tür zuzieht und den Gang einlegt, bemüht er sich noch auffälliger, so zu tun, als wäre er sich dessen nicht bewusst oder als wäre es ihm gleichgültig. Als er davonfährt, stiebt Schnee unter den riesigen Reifen hervor. Anna schließt die Haustür, und ich bleibe reglos stehen, versunken in Schwindel erregende Gedanken und Gefühle.
»Wir müssen dich versorgen«, sagt sie, berührt mich am Arm und bedeutet mir, ihr zu folgen.
Ich erwache zum Leben. »Er ist wütend auf mich.«
»Wenn er nicht auf irgendetwas wütend - oder unhöflich -wäre, dann wäre er krank.«
»Er ist wütend auf mich, weil ich fast ermordet worden wäre.« Ich klinge sehr müde. »Alle sind wütend auf mich.«
»Du bist erschöpft.« Sie bleibt in der Halle stehen, um sich anzuhören, was ich zu sagen habe.
»Soll ich mich entschuldigen, weil jemand versucht hat, mich umzubringen?«, bricht es aus mir heraus. »Habe ich darum gebeten? Habe ich etwas Unrechtes getan? Ich habe die Tür aufgemacht. Ich bin nicht vollkommen, aber ich lebe noch, oder? Wir leben alle noch und sind wohlauf, oder? Warum sind alle wütend auf mich?«
»Nicht alle«, sagt Anna.
»Warum bin ich daran schuld?«
»Glaubst du, dass du schuld bist?« Sie mustert mich mit einem Blick, den man nur als radiologisch beschreiben kann. Anna sieht durch mich hindurch bis auf meine Knochen. »Natürlich nicht«, entgegne ich. »Ich weiß, dass ich nicht schuld bin.«
Sie verriegelt die Tür, schaltet die Alarmanlage ein und führt mich in die Küche. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen habe und was für ein Wochentag heute ist. Dann dämmert es mir. Samstag. Ich habe schon mehrmals danach gefragt. Zwanzig Stunden sind vergangen, seit ich fast umgekommen wäre. Der Tisch ist für zwei gedeckt, und auf dem Herd köchelt ein großer Topf mit Suppe. Ich rieche backendes Brot, und plötzlich ist mir fast schlecht vor Hunger. Trotzdem fällt mir ein Detail auf. Wenn Anna mit Lucy gerechnet hat, warum ist der Tisch dann nicht für drei gedeckt?
»Wann wird Lucy nach Miami zurückkehren?« Anna schein t meine Gedanken zu lesen, als sie den Deckel vom Topf nimmt und mit einem langen hölzernen Kochlöffel umrührt. »Was möchtest du trinken? Scotch?«
»Einen doppelten.«
Sie zieht den Korken aus einer Flasche Glenmorangie Sherry Wood Finish Malzwhisky und gießt die wertvolle rosa Essenz über das Eis in zwei Whiskygläsern aus geschliffenem Kristall. »Ich weiß nicht, wann Lucy zurückkehren wird. Keine Ahnung, wirklich.« Ich will sie über die jüngsten Ereignisse ins Bild setzen. »Das ATF war in Miami an einem Ding beteiligt, das schief ging, sehr schief. Es kam zu einer Schießerei. Lucy -«
»Ja, ja, Kay, das weiß ich alles.« Anna reicht mir den Drink. Sie kann ungeduldig klingen, auch wenn sie ganz ruhig ist. »Es war in allen Nachrichten. Und ich habe dich angerufen. Erinnerst du dich? Wir haben über Lucy gesprochen.«
»Oh, stimmt«, murmle ich.
Sie setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber, stützt die Ellbogen auf und beugt sich vor. Sie ist eine erstaunlich intensive, fitte Frau, groß und stark, eine über ihre Zeit hinaus aufgeklärte Leni Riefenstahl und ohne Angst vor dem Altern. Ihr blauer Hausanzug verleiht ihren Augen die Farbe von Kornblumen, und ihr silbernes Haar wird von einem schwarzen Samtband in einem ordentlichen Pferdeschwanz gehalten. Ich weiß nicht, ob sie sich das Gesicht hat liften oder kosmetisch korrigieren lassen, aber ich vermute, die moderne Medizin hat bei ihrem Aussehen die Finger im Spiel gehabt. Anna könnte leicht als eine Frau in ihren Fünfzigern durchgehen. »Ich nehme an, dass Lucy bei dir bleiben wollte, solange in der Sache ermittelt wird«, sagt sie. »Ich kann mir den ganzen bürokratischen Kram nur allzu gut vorstellen.«
Der Einsatz lief so schief, wie er nur schief laufen konnte. Lucy erschoss zwei Mitglieder eines internationalen
Weitere Kostenlose Bücher