Das letzte Revier
Magen ist nie völlig leer, außer eine Person trinkt eine Riesenmenge Wasser und erbricht sich. Vergleichbar einer Magenspülung oder wiederholten Wasserinfusionen, um ein Gift herauszuwaschen.« Ich sehe einen anderen Film vor mir. Dieses Zimmer war Brays schmutziges Geheimnis, für das sie sich schämte. Es liegt abseits vom Rest des Hauses, und niemand außer Bray betrat es, sodass sie keine Angst haben müsste, entdeckt zu werden. Ich weiß genug über Eßstörungen und Süchte und das verzweifelte Bedürfnis, das verwerfliche Ritual vor anderen zu verbergen. Niemand sollte auch nur ahnen, dass sie Essen in sich hineinstopfte und wieder erbrach, und das erklärt vielleicht auch, warum Bray so wenig Lebensmittel im Haus hatte. Und vielleicht halfen ihr die Medikamente dabei, die Angst zu kontrollieren, die unvermeidlicher Bestandteil jeden zwanghaften Verhaltens ist.
»Eventuell war das der Grund, warum sie Anderson nach de m Essen so schnell loswerden wollte«, meint Berger. »Bray wollte sich übergeben und dabei natürlich ungestört sein.«
»Das wäre zumindest ein Grund«, sage ich. »Leute, die unter Bulimie leiden, werden von dem Impuls, sich zu erbrechen, so überwältigt, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Ja, gut möglich, dass sie allein sein wollte, um sich ihrem Problem zu widmen. Und sie könnte hier in diesem Bad gewesen sein, als Chandonne auftauchte.«
»Und wäre auf Grund der Umstände noch verwundbarer gewesen.« Berger fotografiert das Ex-Lax im Medizinschränkchen. »Ja. Sie war vermutlich erschrocken und paranoid, falls sie bei ihrem Ritual gestört wurde. Und ihr erster Gedanke hätte dem gegolten, was sie gerade tat - und nicht einer drohenden Gefahr.«
»Sie wäre zerstreut gewesen.« Berger beugt sich vor und fotografiert die Toilettenschüssel. »Sehr zerstreut.«
»Sie bringt also eilig zu Ende, was sie gerade macht, sich erbrechen«, rekonstruiert Berger. »Sie verlässt den Raum, schließt die Tür hinter sich und eilt zur Haustür. Sie nimmt an, dass es Anderson ist, die dreimal geklopft hat. Gut möglich, dass Bray nervös und verärgert ist und vielleicht ihrem Ärger Luft machen will, als sie die Tür öffnet und...« Berger geht in den Flur, die Zähne zusammengebissen. »Sie ist tot.«
Sie fügt diesem Szenario nichts mehr hinzu, als wir uns auf die Suche nach der Waschküche machen. Sie weiß, dass ich mir die Verzweiflung und das Grauen vorstellen kann, die einen überfallen, wenn man die Tür öffnet und plötzlich Chandonne aus der Dunkelheit hereinstürmt wie ein Geschöpf aus der Hölle. Berger öffnet Schranktüren im Flur und stößt auf eine Tür, die in den Keller führt. Hier stehen auch Waschmaschine und Trockner, und ich fühle mich auf seltsame Weise unruhig und nervös, als wir im grellen Licht nackter Glühbirnen, die man durch Ziehen an einer Schnur einschaltet, umhergehen. I n diesem Teil des Hauses war ich ebenfalls noch nie. Ich habe nie zuvor den roten Jaguar gesehen, von dem ich so viel gehört habe. An diesem dunklen, voll gestellten, trostlosen Ort wirkt er absurd und fehl am Platz. Der Wagen ist ein dreistes, unzweideutiges Symbol für die Macht, nach der sich Bray sehnte und mit der sie protzte. Ich denke daran, wie Anderson wütend sagte, dass Bray sie wie Dreck behandelt habe. Ich bezweifle, dass Bray den Wagen auch nur ein einziges Mal selbst in die Waschanlage gefahren hat.
Diese Kellergarage sieht vermutlich noch so aus wie zu der Zeit, als Bray das Haus kaufte: ein verstaubter, dunkler Ort aus Beton, eingefroren in der Zeit. Keine Anzeichen von Verschönerung.
Werkzeuge an einem Brett und ein Rasenmäher sind alt und verrostet. Ersatzreifen lehnen an der Wand. Waschmaschine und Trockner sind nicht neu, und obwohl ich keinen Zweifel habe, dass die Polizei die Geräte überprüft hat, kann ich keine Anzeichen erkennen. Beide Maschinen sind voll. Wann immer Bray zum letzten Mal gewaschen hat, machte sie sich nicht die Mühe, die Waschmaschine oder den Trockner zu leeren, und gewaschene Unterwäsche, Jeans und Handtücher sind hoffnungslos zerknittert und riechen muffig. Schmutzige Socken, weitere Handtücher und Trainingskleidung liegen in der Waschmaschine. Ich ziehe ein Speedo-T-Shirt heraus. »War sie Mitglied in einem Fitnessclub?«, frage ich.
»Gute Frage. Eitel und zwanghaft, wie sie war, hat sie vermutlich etwas getan, um in Form zu bleiben.« Berger wühlt in der vollen Waschmaschine und zieht einen Slip mit Blutflecken
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