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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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»Bruder Thomas bescheißt seine Familie, hat seinen eigenen kleinen Nebenerwerb, leitet Schiffe um, fälscht Frachtpapiere, macht selbst in Waffen und Drogen. Und wir nehmen an, dass seine Familie ihm draufkam. Er ließ sich die Punkte zu Eulenaugen umtätowieren und legte sich Decknamen zu, weil er wusste, dass die Familie ihn ausschalten würde, sollte sie ihn finden«, wiederhole ich, was man mir erzählt hat, was Jay Talley mir in Lyon erzählt hat. »Interessant.« Sie legt einen Finger an die Lippen und sieht sich um. »Und wie es scheint, hat ihn die Familie ausgeschaltet. Der zweite Sohn vielmehr. Das Glas mit Formalin. Warum nahmen Sie es mit nach Hause? Erklären Sie es mir noch einmal.«
    »Es war kein Vorsatz. Ich fuhr zu einem Tattoo-Studio in Petersburg, damit sich ein Experte dort die Tätowierung ansehen konnte. Von dort aus kehrte ich direkt nach Hause zurück und stellte das Glas in mein Arbeitszimmer. Es war reiner Zufall, dass an dem Abend, als er hier eindrang -«
    »Jean-Baptiste Chandonne.«
    »Ja. An dem Abend hatte ich das Glas ins große Zimmer mitgenommen und betrachtete es hin und wieder, während ich etwas anderes machte. Ich stellte es auf den Tisch. Er dringt in mein Haus ein, und ich laufe hierher. Jetzt hat er den Maurerhammer in der Hand und holt aus, um mich damit zu schlagen. Ich sehe das Glas und greife reflexhaft danach. Ich springe über das Sofa, schraube den Deckel ab und schütte ihm das Formalin ins Gesicht.«
    »Es war ein Reflex, weil Sie sehr genau wissen, wie ätzen d Formalin ist.«
    »Man kann es nicht Tag für Tag riechen und das nicht wissen. In meinem Beruf ist Formalin ein Risiko, mit dem wir leben müssen, und jeder von uns hat Angst vor Spritzern«, erkläre ich, und mir wird bewusst, wie diese Geschichte in den Ohren der Geschworenen klingen wird. Konstruiert. Unglaubwürdig. Grotesk und bizarr. »Haben Sie es jemals in die Augen gekriegt?«, fragt mich Berger. »Sich jemals mit Formalin bespritzt?«
    »Nein, Gott sei Dank.«
    »Sie schütteten es ihm also ins Gesicht. Und dann?«
    »Ich rannte aus dem Haus. Unterwegs griff ich meine Glock vom Esszimmertisch, wohin ich sie am früheren Abend gelegt hatte. Ich laufe aus dem Haus, rutsche auf der vereisten Treppe aus und breche mir den Arm.« Ich halte den Gips hoch. »Und was tut er?«
    »Er folgt mir.«
    »Sofort?«
    »So scheint es.«
    Berger geht um das Sofa herum und steht jetzt auf dem antiken französischen Eichenparkett, von dem das Formalin teilweise die Versiegelung weggeätzt hat. Sie folgt den hellen Flecken. Die Formalinspritzer reichen offenbar fast bis zur Küchentür. Das war mir bislang nicht klar. Ich erinnere mich nur an sein Geheul, seine Schmerzensschreie, als er sich an die Augen fasste. Berger steht in der Tür und starrt in meine Küche. Ich gehe zu ihr rüber und frage mich, was sie so gefangen nimmt.
    »Ich muss kurz vom Thema abschweifen und Ihnen sagen, dass ich noch nie so eine Küche gesehen habe«, sagt sie. Die Küche ist das Herz meines Hauses. Kupfertöpfe und -pfannen schimmern golden an dem Gestänge über dem riesigen Thirode-
    Herd, der mitten im Raum steht und mit zwei Grills, einem Heiß-Wasser-Bad, zwei Elektroplatten, einem Backofen, Gasbrennern, einem Holzkohlegrill und einem überdimensionalen Brenner für die großen Töpfe mit Suppe, die ich so gern koche, ausgestattet ist. Alle anderen Geräte sind aus rostfreiem Stahl, darunter ein kombinierter Kühl-Gefrierschrank. Ein Regal mit Gewürzen hängt an der Wand, und eine doppelbettgroße Arbeitsplatte vervollständigt die Einrichtung. Der Boden besteht aus unversiegelten Eichendielen, in einer Ecke steht ein Weinkühlschrank und neben dem Fenster ein kleiner Tisch, von dem aus man bis zu einer Biegung des James River sehen kann.
    »Eine richtige Werkstatt«, murmelt Berger, als sie durch die Küche geht, die mich, ja, ich gebe es zu, mit Stolz erfüllt. »Für jemanden, der gern arbeitet und die guten Dinge des Lebens liebt. Ich habe gehört, dass Sie eine erstaunliche Köchin sind.«
    »Ich koche gern«, sage ich. »Es lenkt mich von allem anderen ab.«
    »Woher haben Sie Ihr Geld?«, fragt sie indiskreterweise. »Ich kann gut damit umgehen«, erwidere ich kühl, weil ich nicht gern über Geld rede. »Ich habe Glück gehabt mit Investitionen, sehr viel Glück.«
    »Sie sind eine kluge Geschäftsfrau«, sagt Berger. »Ich tue mein Bestes. Und als Benton starb, habe ich seine Eigentumswohnung in Hilton Head geerbt.«

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