Das letzte Revier
Wien und dem besten Champagner, und alle waren betrunken. Ich versteckte mich in meinem Schlafzimmer und fürchtete mich davor, wer als Nächstes kommen würde. Ich versteckte mich die ganze Nacht unter dem Bett, und mehrmals kam jemand in mein Zimmer, und einmal schlug jemand die Bettdecke zurück und fluchte. Ich lag die ganze Nacht unter dem Bett und träumte von der Musik und dem jungen Mann, der seiner Geige so süße Töne entlocken konnte. Er sah mich oft an, und ich errötete, und später unter meinem Bett dachte ich an ihn. Niemand, der solche Schönheit erschaffen konnte, konnte unfreundlich sein. Die ganze Nacht dachte ich an ihn.«
»An den Geiger aus Wien?«, frage ich. »In den du dich späte r -«
»Nein, nein.« Anna schüttelt den Kopf. »Das war viele Jahre vor Rudi. Aber ich glaube, damals verliebte ich mich in Rudi, ohne ihn zu kennen. Ich sah die Mus iker in ihren schwarzen Fräcken und war hingerissen vom Zauber ihrer Musik, und ic h wollte, dass sie mich von dem Grauen erlösten. Ich stellte mir vor, dass ich auf ihren Tönen an einen reinen Ort davonflog. Einen Augenblick lang lebte ich wieder in dem Österreich vor dem Steinbruch und vor dem Krematorium, als das Leben noch einfach war, die Leute anständig und lustig waren und schöne Gärten hatten und stolz auf ihr Heim waren. An sonnigen Frühlingstagen hängten wir unsere Daunenbetten aus dem Fenster, damit sie in der süßesten Luft lüfteten, die ich je geatmet habe. Und wir spielten auf Wiesen, die bis in den Himmel zu reichen schienen, mein Vater ging in den Wäldern auf Jagd nach Wildschweinen, und meine Mutter nähte und buk.« Sie hält inne, ihre Miene traurig. »Ein Streichquartett konnte die schrecklichste aller Nächte verwandeln. Und später treibt mich dieser magische Traum in die Arme eines Mannes mit einer Geige, ein Amerikaner. Und ich bin hier. Ich bin hier. Ich bin entkommen. Aber ich bin nie entkommen, Kay.«
Die Dämmerung schimmert durch die Vorhänge und färbt sie honigfarben. Ich sage Anna, wie froh ich bin, dass sie hier ist. Ich danke ihr dafür, dass sie mit Benton gesprochen und mir jetzt davon berichtet hat. Mein Bild ist jetzt in vieler Hinsicht vollständiger als früher. In anderer Hinsicht ist es so lückenhaft wie zuvor. Ich kann die Schwankungen in Bentons Stimmungen und Launen vor seinem Tod nicht wirklich nachvollziehen, aber ich weiß, dass sich Carrie Grethen zu der Zeit, als Benton Annas Patient war, nach einem Ersatz für ihren Partner Temple Gault umsah. Früher hatte Carrie mit Computern gearbeitet. Brillant und manipulativ verschaffte sie sich Zugang zu einem Computer im psychiatrischen Krankenhaus Kirby. So warf sie ihr Netz aus. Über das Internet nahm sie Kontakt mit einem neuen Partner auf - einem weiteren psychopathischen Mörder namens Newton Joyce, der ihr half, aus Kirby zu fliehen.
»Vielleicht hat sie über das Internet auch noch gewisse andere Leute kennen gelernt«, sagt Anna. »Marinos Sohn Rocky?«
»Das frage ich mich.«
»Anna, hast du eine Ahnung, was mit Bentons Akte passiert ist? Der DLR-Akte, wie er sie nannte?«
»Ich habe sie nie gesehen.« Sie setzt sich aufrechter, beschließt, dass es an der Zeit ist, aufzustehen, die Decke rutscht ihr bis zur Hüfte hinunter. Ihre nackten Arme sind fürchterlich dünn und faltig, als hätte jemand die Luft herausgelassen. Ihr Busen hängt unter der dunklen Seide herunter. »Als ich dir dabei geholfen habe, seine Kleidung und andere Dinge zu ordnen, ist mir keine Akte begegnet. Aber in seinem Arbeitszimmer habe ich nichts angerührt.« Ich erinnere mich an so wenig.
»Nein.« Sie schlägt die Bettdecke zurück und schwingt die Beine aus dem Bett. »Das hätte ich nicht. Die hätte ich niemals angerührt. Seine Akten.« Sie zieht sich einen Morgenmantel über. »Ich habe angenommen, das hättest du getan.« Sie sieht mich an. »Das hast du doch, oder? Was ist mit seinem Büro in Quantico? Er war bereits pensioniert, deswegen war es wahrscheinlich schon aufgelöst.«
»Ja, es war bereits aufgelöst.« Wir gehen in die Küche. »Die Akten seiner Fälle sind dort geblieben. Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen beim FBI betrachtete Benton die Fälle, die er bearbeitet hatte, nicht als sein Eigentum«, sage ich wehmütig. »Ich weiß, dass er keine Akten aus Quantico mitgenommen hat, als er aufhörte. Ich weiß allerdings nicht, ob er die DLR-Akte dort gelassen hat. Wenn ja, werde ich sie nie zu sehen bekommen.«
»Es war eine
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