Das letzte Revier
auf und gehe in die Küche, um Kaffee zu kochen. Eine Weile sitze ich vor dem dunklen Fenster und schaue hinaus auf den unsichtbaren Fluss und denke darüber nach, was Anna geschrieben hat. Vieles aus Bentons letzten Jahren ergibt jetzt einen Sinn. An manchen Tagen behauptete er, vor Anspannung Kopfweh zu haben, und ich meinte, er sähe verkatert aus, was er, wie ich jetzt weiß, wahrscheinlich auch war. Er war zunehmend deprimiert und frustriert und unzugänglich. In mancher Hinsicht verstehe ich, dass er mir von den Briefen, den Anrufen und von der DLR-Akte nichts erzählte. Aber es war nicht richtig. Er hätte es mir erzählen sollen.
Ich kann mich nicht erinnern, über eine Akte dieses Namens gestolpert zu sein, als ich nach Bentons Tod seine Sachen ordnete. Andererseits kann ich mich an manches aus der Zeit nicht erinnern. Es war, als lebte ich unter der Erde und würde nur ganz schwer und langsam vom Fleck kommen, unfähig zu erkennen, wohin ich ging oder woher ich kam. Anna half mir, seine persönlichen Dinge zu sortieren. Sie räumte Schränke und Kommoden aus, während ich kam und ging wie ein wahnsinniges Insekt, kurz half, dann wieder tobte oder weinte. Ich frage mich, ob sie die Akte in der Hand hatte. Ich muss sie finden, wenn sie noch existiert. Das erste Licht ist eine Andeutung von dunklem Blau. Ich mache Kaffee für Anna und gehe damit zu ihrem Schlafzimmer. Vor der Tür horche ich, ob sie wach ist. Alles ist still. Ich mache leise auf, trage den Kaffee hinein und stelle ihn auf den ovalen Tisch neben ihrem Bett. Anna mag es, wenn nachts Lichter brennen. Ihr Zimmer ist beleuchtet wie eine Landebahn, überall sind kleine Lampe n eingelassen. Als ich das zum ersten Mal sah, fand ich es eigenartig. Jetzt verstehe ich es. Vielleicht assoziiert sie völlige Dunkelheit damit, allein und voller Angst in ihrem Schlafzimmer darauf zu warten, dass ein betrunkener, stinkender Nazi hereinschleicht und sich ihres jungen Körpers bemächtigt. Kein Wunder, dass sie ihr gesamtes Leben damit verbracht hat, seelisch geschädigte Menschen zu behandeln. Sie versteht sie. Genauso wie ich studiert sie ihre eigenen vergangenen Tragödien in anderen.
»Anna?«, flüstere ich. Ich sehe, wie sie sich rührt. »Anna? Ich bin's. Ich habe dir Kaffee gebracht.«
Sie setzt sich erschrocken auf, blinzelt, ihr weißes Haar hängt ihr ins Gesicht und ist zerzaust.
Fröhliche Weihnachten, will ich sagen. Stattdessen wünsche ich ihr »schöne Feiertage«.
»All die Jahre feiere ich Weihnachten, während ich insgeheim Jüdin bin.« Sie langt nach dem Kaffee. »Ich bin nicht berühmt für meine gute Laune morgens«, sagt sie.
Ich drücke ihre Hand, und in der Dunkelheit wirkt sie plötzlich alt und zerbrechlich. »Ich habe deinen Brief gelesen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich kann ihn nicht vernichten, und wir müssen darüber reden«, sage ich.
Einen Augenblick schweigt sie. Ich meine, in ihrem Schweigen Erleichterung zu verspüren. Dann wird sie wieder stur und winkt ab, als könnte sie mit einer schlichten Geste ihre ganze Geschichte und das, was sie mir über mein eigenes Leben erzählt hat, abtun. Die eingelassenen Lichter werfen übertriebene Schatten auf Biedermeiermöbel und antike Lampen und Ölgemälde an den Wänden in ihrem großen, schönen Schlafzimmer. Die dicken Seidenvorhänge sind zugezogen. »Ich hätte dir wahrscheinlich nichts davon schreiben sollen«, sagt sie bestimmt. »Ich wünschte, du hättest mir früher geschrieben, Anna.« Sie nippt an ihrem Kaffee und zieht die Decke bis z u den Schultern. »Du kannst nichts dafür, was dir als Kind passiert ist«, sage ich. »Dein Vater hat die Entscheidungen gefällt, nicht du. Er hat dich einerseits beschützt, und andererseits hat er dich überhaupt nicht beschützt. Vielleicht hatte er keine Wahl.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du hast keine Ahnung. Du kannst es nicht wissen.«
Ich widerspreche nicht.
»Kein Ungeheuer kann man mit ihnen vergleichen. Meine Familie konnte nicht anders. Mein Vater trank eine Menge Schnaps. Die meiste Zeit war er betrunken, und sie betranken sich mit ihm. Bis zum heutigen Tag kann ich keinen Schnaps riechen.« Sie nimmt die Kaffeetasse in beide Hände. »Sie betranken sich alle. Als Reichsminister Speer und sein Gefolge die Einrichtungen in Gusen und Ebensee besuchten, kamen sie auch auf unser kleines Schloss, o ja, auf unsere niedliche kleine Burg. Meine Eltern veranstalteten ein üppiges Abendessen mit Musikern aus
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