Das letzte Revier
persönliche Akte«, erklärt Anna. »An ihn gerichtete Korrespondenz. Er sprach davon nie im Zusammenhang mit Angelegenheiten des FBI. Die Drohbriefe, die seltsamen Anrufe fasste er als etwas Persönliches auf, und er hat auch nicht mit Kollegen darüber gesprochen. So paranoid war er, vor allem weil manche Drohungen gegen dich gerichtet waren. Ich glaube, ich war die Einzige, die davon wusste. Nein , ich bin sicher. Ich habe ihm oft geraten, das FBI einzuweihen.« Sie schüttelt den Kopf. »Er wollte nicht.« Ich werfe den Kaffeefilter in den Abfall und verspüre etwas von dem alten Unmut. Benton hat mir so viel verheimlicht. »Es ist eine Schande«, sage ich. »Hätte er mit Kollegen darüber geredet, wäre das alles vielleicht nicht passiert.« »Möchtest du noch Kaffee?«
Mir fällt ein, dass ich nicht geschlafen habe. »Ich brauche wohl noch einen.«
»Wiener Kaffee«, sagt Anna, öffnet den Kühlschrank und holt eine Tüte mit Kaffee heraus. »Weil ich heute Morgen Sehnsucht nach Österreich habe«, sagt sie mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, als würde sie sich insgeheim dafür tadeln, mir Details aus ihrer Vergangenheit erzählt zu haben. Sie schüttet Bohnen in die Mühle, und die Küche ist kurz von Lärm erfüllt. »Am Ende war Benton enttäuscht vom FBI«, denke ich laut. »Ich glaube nicht, dass er den Leuten um ihn herum noch traute. Zu viel Konkurrenzdenken. Er war der Leiter der Abteilung und wusste, dass sich jeder um seine Nachfolge schlagen würde, kaum hätte er das Wort Pensionierung auch nur erwähnt. Wie ich ihn kenne, hat er seine Probleme ganz mit sich allein abgemacht - wie er auch seine Fälle bearbeitete. Benton war ein Meister der Diskretion.« Ich gehe alle Möglichkeiten durch. Wo hätte Benton diese Akte aufbewahrt? Wo könnte sie sein? Bei mir zu Hause hatte er ein eigenes Zimmer, wo er seine Sachen verwahrte und seinen Laptop anschloss. Er hatte Schubladen voller Akten. Aber die habe ich alle gesichtet und bin auf nichts gestoßen, was Annas Beschreibung auch nur ähnelte.
Dann fällt mir etwas anderes ein. Als Benton in Philadelphia ermordet wurde, wohnte er in einem Hotel. Mehrere Taschen mit persönlicher Habe wurden mir zurückgegeben, darunter seine Aktentasche, die ich durchsuchte. Wie schon die Polizei zuvor. Ich weiß, dass sich die DLR-Akte nicht darin befand, aber wenn stimmt, dass Benton Carrie Grethen mit de n merkwürdigen Anrufen und Drohbriefen, die er bekam, in Verbindung brachte, hätte er dann die DLR-Akte nicht mitgenommen, wenn er einen neuen Fall bearbeitete, der möglicherweise mit ihr zu tun hatte? Hätte er die Akte nicht nach Philadelphia mitgenommen? Ich gehe zum Telefon und rufe Marino an. »Fröhliche Weihnachten«, sage ich. »Ich bin's.«
»Was?«, grummelt er noch halb im Schlaf. »Scheiße. Wie viel Uhr ist es?«
»Kurz nach sieben.«
»Sieben!« Ein Ächzen. »Himmel, der Weihnachtmann war noch nicht mal da. Warum rufst du mich so früh an?«
»Marino, es ist wichtig. Als die Polizei im Hotelzimmer in Philadelphia Bentons Habe durchsuchte, hast du dir die Sachen da angesehen?«
Ein lautes Gähnen. »Verdammt, ich darf nicht mehr so lang aufbleiben. Meine Lungen bringen mich um, ich muss mit Rauchen aufhören. Ich, ein paar Freunde und Wild Turkey waren gestern noch ziemlich lange unterwegs.« Ein weiteres Gähnen. »Moment. Allmählich komme ich zu mir. Lass mich auf einen anderen Kanal umschalten. Erst ist Weihnachten, dann fragst du was wegen Philadelphia?«
»Ja. Die Sachen, die ihr in Bentons Hotelzimmer gefunden habt.«
»Ja. Ja, die hab ich gesehen.«
»Hast du irgendwas an dich genommen? Zum Beispiel was aus seiner Aktentasche? Eine Akte vielleicht, mit Briefen?«
»Es waren ein paar Akten darunter. Warum willst du das wissen?« Ich werde aufgeregt. Meine Synapsen feuern, bringen Licht in meine Gedanken und pumpen Energie in meine Zellen. »Wo sind diese Akten jetzt?«, frage ich.
»Ja, ich erinnere mich an Briefe. Merkwürdiges Zeug, das ich mir genauer ansehen wollte. Aber dann hat Lucy Carrie un d Joyce abgeschossen und in Fischfutter verwandelt, und damit war der Fall abgeschlossen, sozusagen. Scheiße. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie eine verdammte AR- fünfzehn in ihrem verdammten Hubschrauber hatte, und -«
»Wo sind die Akten?«, frage ich ihn noch einmal, und dieses Mal klingt es dringlich. Mein Herz klopft heftig. »Ich muss die Akte mit den merkwürdigen Briefen sehen. Benton nannte sie die DLR-Akte.
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