Das letzte Revier
(1945 starb dieser Kommandant in Gusen, und seine Leiche wurde tagelang öffentlich zur Schau gestellt. Ich habe sie mir angesehen und darauf gespuckt. Das waren meine wahren Gefühle - eine Wahrheit, die ich nicht früher hätte preisgeben können!) Wahrheit ist also etwas Relatives. Es geht dabei um den richtigen Zeitpunkt. Darum, was sicher ist. Wahrheit ist der Luxus der Privilegierten, der Leute, die genug zu essen haben und sich nicht verstecken müssen, nur weil sie Juden sind. Wahrheit kann zerstören, und deswegen ist es nicht immer klug oder gesund, die Wahrheit zu sagen. Und so etwas sagt eine Psychiaterin, nicht wahr? Aber ich will Dir dies e Lektion aus einem bestimmten Grund erteilen, Kay. Wenn Du meinen Brief gelesen hast, musst Du ihn vernichten und darfst nie zugeben, dass er jemals existierte. Ich kenne Dich gut. So ein kleiner heimlicher Akt wird Dir nicht leicht fallen. Wenn Du gefragt wirst, darfst Du nicht darüber sprechen, was ich Dir hier erzähle.
Mein Leben in diesem Land wäre zerstört, wenn bekannt würde, dass meine Familie der SS Kost und Logis gab, auch wenn wir es nur gezwungenermaßen taten. Wir taten es, um zu überleben. Ich glaube auch, dass es Dir sehr schaden würde, wenn die Leute wüssten, dass Deine beste Freundin eine Nazi-Sympathisantin war. Und so würde ich mit Sicherheit genannt werden. Und das wäre schrecklich, wenn man diese Menschen so hasst, wie ich es tue. Ich bin Jüdin. Mein Vater war ein vorausblickender Mensch und wusste genau, was Hitler vorhatte. In den späten dreißiger Jahren nutzte mein Vater seine beruflichen und politischen Verbindungen und seinen Reichtum, um uns neue Identitäten zu verschaffen. Wir änderten unseren Namen in Zenner und zogen von Polen nach Österreich, als ich noch zu jung war, um viel mitzukriegen. Man könnte also sagen, dass ich schon mein ganzes Leben lang mit einer Lüge lebe. Vielleicht hilft Dir das auch zu verstehen, warum ich nicht in einer Anhörung auftreten will und es, wenn irgend möglich, vermeiden werde. Der eigentliche Grund für diesen langen Brief ist jedoch nicht, dass ich me ine Geschichte erzählen will, Kay. Ich komme nun endlich zu Benton. Du weißt vermutlich nicht, dass er eine Weile mein Patient war. Vor ungefähr drei Jahren kam er in meine Praxis. Er war depressiv und hatte viele Probleme, die mit seiner Arbeit zusammenhingen und über die er mit niemanden sprechen konnte, nicht einmal mit Dir. Er sagte, dass er während all seiner Jahre beim FBI das Schlimmste vom Schlimmen gesehen habe - die abartigsten Taten, die man sich vorstellen kann, und obwohl sie ihn verfolgten und er darunter litt, dem, wie er es nannte, »Bösen« ausgesetzt zu sein , hatte er doch nie wirklich Angst. Die meisten der Täter interessierten sich nicht für ihn. Sie wollten ihm persönlich keinen Schaden zufügen und genossen sogar die Aufmerksamkeit, die er ihnen schenkte, wenn er sie im Gefängnis befragte. Bei den vielen Fällen, die er der Polizei lösen half, war er nie persönlich in Gefahr. Serienvergewaltiger und - mörder interessierten sich nicht für ihn. Aber dann begannen, ein paar Monate bevor er zu mir kam, merkwürdige Dinge zu passieren. Ich wünschte, ich könnte mich besser erinnern, Kay, aber es waren eigenartige Vorkommnisse. Anrufe, bei denen aufgelegt wurde. Anrufe, die nicht zurückverfolgt werden konnten, weil sie über Satellit vermittelt wurden. (Vermutlich meinte er Handys.) Er bekam seltsame Post, worin Schreckliches über Dich stand. Drohbriefe, deren Absender ebenfalls nicht ermittelt werden konnte. Benton war klar, dass, wer immer diese Briefe schrieb, Persönliches über Euch beide wusste.
Natürlich hatte er Carrie Grethen in Verdacht. Er sagte mehrmals: »Von der Frau werden wir noch hören.« Aber damals glaubte er nicht, dass diese Anrufe von ihr kamen oder die Briefe, weil sie eingesperrt war in New York - in Kirby. Um die nächsten sechs Monate unserer Gespräche zusammenzufassen: Er hatte eine starke Vorahnung, dass er bald sterben würde. Er litt unter Depressionen, Angstzuständen, paranoiden Anfällen und hatte ein Alkoholproblem. Er sagte, dass er schwere Besäufnisse vor Dir verbarg und dass seine Probleme Eure Beziehung belasteten. Manches, was Du mir während unserer Gespräche erzählt hast, Kay, hat mir gezeigt, dass er auch privat anfing, sich zu verändern. Jetzt begreifst Du vielleicht die Gründe dafür.
Ich wollte Benton ein mildes Antidepressivum verschreiben, aber er
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