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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Freundschaft zu schließen. Das gebe ich zu. Aber ich glaube, der wesentliche Unterschied zwischen Lucy und mir ist, dass ich nicht erwarte, die Seelenfreundin eines Mannes zu sein, und Männer wirken auf sie übermächtig. Und wahre Intimität ist ohne ein Machtgleichgewicht zwischen den Beteiligten nicht möglich. Weil ich Männer nicht als übermächtig sehe, wähle ich sie als Geschlechtspartner.« Anna schweigt. »Mehr werde ich vermutlich nicht herausfinden«, füge ich hinzu. »Nicht alles kann erklärt werden. Lucys Vorlieben und Bedürfnisse können nicht vollkommen erklärt werden. Meine ebenso wenig.«
    »Glaubst du wirklich, dass du nicht die Seelenfreundin eines Mannes sein kannst? Vielleicht sind dann deine Erwartungen zu niedrig? Ist das möglich?«
    »Das ist sehr gut möglich.« Fast muss ich lachen. »Nach de n vielen Beziehungen, die ich vermasselt habe, habe ich das Recht auf niedrige Erwartungen.«
    »Hast du dich je zu einer Frau hingezogen gefühlt?«, stellt Anna endlich die Frage, auf die ich gewartet habe.
    »Manche Frauen habe ich als sehr unwiderstehlich empfunden«, gebe ich zu. »Ich erinnere mich, dass ich als Heranwachsende in manche Lehrerinnen verknallt war.«
    »Verbindest du mit >verknallt< sexuelle Gefühle?«
    »Verknalltsein schließt sexuelle Gefühle mit ein. So unschuldig und naiv es auch sein mag. Eine Menge Mädchen verknallen sich in ihre Lehrerinnen, vor allem in kirchlichen Schulen, wo sie ausschließlich von Frauen unterrichtet werden.«
    »Von Nonnen.«
    Ich lächle. »Ja, stell dir vor, dich in eine Nonne zu verknallen.«
    »Ich stelle mir vor, dass sich manche Nonnen auch in ihre Kolleginnen verknallen«, sagt Anna.
    Eine dunkle Wolke der Unsicherheit und Unruhe senkt sich auf mich herab, und irgendwo ganz hinten in meinem Bewusstsein höre ich ein Warnsignal. Ich weiß nicht, warum Anna so auf Sex fixiert ist, insbesondere auf homosexuellen Sex, und ich frage mich, ob sie lesbisch ist und deswegen nie geheiratet hat, oder vielleicht testet sie mich auch nur, um zu sehen, wie ich reagiere, wenn sie jetzt, nach den vielen Jahren, die Wahrheit über sich erzählt. Der Gedanke, dass sie mir aus Angst dieses Detail vorenthalten hat, schmerzt mich.
    »Du hat gesagt, dass du der Liebe wegen nach Richmond gezogen bist.« Jetzt bin ich an der Reihe, nachzufragen. »Und die Person hat sich als Zeitverschwendung erwiesen. Warum bist du nicht zurück nach Deutschland? Warum bist du in Richmond geblieben, Anna?«
    »Ich habe in Wien Medizin studiert und komme au s Österreich, nicht aus Deutschland«, sagt sie. »Ich bin in einem Schloss aufgewachsen, das über Jahrhunderte im Besitz unserer Familie war, in der Nähe von Linz an der Donau, und während des Kriegs haben sich die Nazis bei uns einquartiert und lebten mit uns. Mit meiner Mutter, meinem Vater, meinen zwei älteren Schwestern und meinem jüngeren Bruder. Und aus dem Fenster sah ich den Rauch aus dem ungefähr fünfzehn Kilometer entfernten Krematorium Mauthausen, ein berüchtigtes Konzentrationslager, ein riesiger Steinbruch, in dem die Gefangenen gezwungen wurden, Granit abzubauen. Sie mussten riesige Quader davon hunderte von Stufen hinaufschleppen, und wenn sie schwankten, wurden sie geschlagen oder in den Abgrund gestoßen. Juden, Republikaner aus Spanien, Russen, Homosexuelle.
    Tagein, tagaus hingen dunkle Wolken des Todes am Horizont, und manchmal sah ich, wie mein Vater dorthin starrte und seufzte, wenn er glaubte, dass niemand ihn beobachtete. Ich spürte seinen tiefen Schmerz und seine Scham. Weil wir nichts dagegen unternehmen konnten, war es leicht zu verdrängen. Die meisten Österreicher wollten nicht wissen, was in unserem schönen kleinen Land geschah. Das erschien mir unverzeihlich, aber es war nicht zu ändern. Mein Vater war sehr wohlhabend und einflussreich, aber sich gegen die Nazis zu stellen hätte bedeutet, selbst in ein Lager zu kommen oder standrechtlich erschossen zu werden. Ich kann noch immer ihr Lachen und das Klirren von Gläsern hören, als wären diese Ungeheuer unsere besten Freunde. Einer von ihnen kam nachts in mein Schlafzimmer. Ich war siebzehn. Das ging zwei Jahre lang so. Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass mein Vater nichts dagegen tun konnte, und ich vermute, er wusste, was los war. O ja, ich bin mir sogar sicher. Ich machte mir Sorgen, dass das Gleiche mit meinen Schwestern passierte, und ich bin sicher, dass dem auch so war. Nach dem Krieg beendete ich meine Ausbildung

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