Das letzte Revier
rede drauflos, breche ab, setze erneut an, während ich versuche, mir diesen Sex vorzustellen, und gleichzeitig nicht weiß, ob ich ihn mir überhaupt vorstellen will. »Ich weiß nicht. Ich überlege nur, wie wichtig Sex sein sollte, wie wichtig er ist.«
»Angesichts dessen, was du tust, müsstest du eigentlich wissen, wie wichtig Sex ist, Kay. Er ist eine starke Macht. Er ist Leben und Tod«, sagt Anna. »Natürlich siehst du ihn vor allem als eine Macht, die fürchterlich missbraucht wurde. Chandonne ist ein gutes Beispiel. Er erlebt sexuelle Befriedigung, wenn er überwältigt, wenn er Leiden verursacht, wenn er Gott spielt und entscheidet, wer lebt und wer stirbt.«
»So ist es.«
»Macht erregt ihn sexuell. Wie die meisten Menschen«, sagt Anna.
»Es ist das größte Aphrodisiakum«, stimme ich ihr zu. »Wenn die Leute es zugeben.«
»Diane Bray ist ein weiteres Beispiel. Eine schöne, provozierende Frau, die ihren Sexappeal einsetzte, um andere zu beherrschen, zu kontrollieren. Zumindest habe ich diesen Eindruck von ihr«, sagt Anna. »Diesen Eindruck hat sie vermittelt«, erwidere ich.
»Meinst du, dass sie sich sexuell zu dir hingezogen fühlte?«, fragt mich Anna.
Ich beurteile diese Frage klinisch. Die Vorstellung ist mir unangenehm, deswegen halte ich sie auf Distanz und studiere sie wie ein Organ, das ich seziere. »Das ist mir nie in den Sinn gekommen«, sage ich. »Deshalb war es wahrscheinlich nicht so, sonst hätte ich die Signale aufgeschnappt.« Anna reagiert nicht. »Nehme ich zumindest an.«
Anna kauft mir das nicht ab. »Hast du mir nicht erzählt, dass sie Marino benutzt hat, um dich kennen zu lernen? Dass sie mit dir zu Mittag essen, dich privat treffen, dich besser kenne n wollte und versucht hat, über ihn an dich ranzukommen?«
»Das hat Marino mir erzählt«, erwidere ich. »Vielleicht weil sie sich sexuell zu dir hingezogen fühlte? Damit hätte sie dich endgültig in der Hand gehabt, nicht wahr? Wenn sie nicht nur deine Karriere zerstört, sondern sich auch noch deinen Körper und damit deine gesamte Existenz angeeignet hätte? Tun das nicht Chandonne und seinesgleichen? Auch sie müssen sich zu jemandem hingezogen fühlen. Nur dass sie es anders ausleben als der Rest. Und wir wissen ja, was du mit ihm getan hast, als er versuchte, deiner habhaft zu werden. Das war sein großer Fehler, stimmt's? Er hat dich mit Lust in den Augen angesehen, und du hast ihn geblendet. Zumindest vorübergehend.« Sie hält inne, den Finger am Kinn, ihr Blick unverwandt auf mich gerichtet. Ich sehe sie jetzt an. Wieder habe ich dieses sonderbare Gefühl. Am besten trifft es vielleicht noch der Begriff Warnung. Ich kann es einfach nicht benennen.
»Was hättest du getan, wenn Diane Bray versucht hätte, sich dir zu nähern, vorausgesetzt sie fühlte sich zu dir hingezogen? Wenn sie scharf auf dich gewesen wäre?«, hakt Anna nach.
»Ich habe meine Möglichkeiten, Avancen abzuwehren«, sage ich.
»Auch Avancen von Frauen?« »Von allen.«
»Dann haben Frauen dir also Avancen gemacht?«
»Hin und wieder im Lauf der Jahre.« Es ist eine eindeutige Frage mit einer eindeutigen Antwort. Ich lebe nicht in einer Höhle. »Ja, ich begegne Frauen, die für mich ein Interesse bekunden, das ich nicht erwidern kann.«
»Das du nicht erwidern kannst oder willst?«
»Beides.«
»Und wie fühlst du dich, wenn eine Frau dich begehrt? Anders, als wenn es ein Mann wäre?«
»Willst du herausfinden, ob ich homophobisch bin, Anna.« »Bist du es?«
Ich denke darüber nach. Ich gehe in mich, um herauszufinden, ob mir Homosexualität unangenehm ist. Ich habe Lucy immer sofort versichert, dass ich keine Probleme mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen habe, abgesehen von den Unannehmlichkeiten, die sie mit sich bringen. »Es ist für mich in Ordnung«, sage ich. »Wirklich und wahrhaftig. Es ist nur einfach nicht mein Ding. Es ist nicht meine Wahl.«
»Die Menschen wählen?«
»In gewisser Weise.« Dessen bin ich sicher. »Und das sage ich, weil ich glaube, dass die Menschen sich zu vielem hingezogen fühlen, was nicht unbedingt gut für sie ist, und deswegen geben sie diesen Impulsen nicht nach. Ich kann Lucy verstehen. Ich habe sie zusammen mit ihren Freundinnen gesehen, und in gewisser Weise beneide ich sie um ihre Nähe, denn obwohl sie sich gegen die Mehrheit stellen, kommen sie in den Vorteil der engen Freundschaften, zu denen Frauen in der Lage sind. Für Frauen und Männer ist es schwieriger, tiefe
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