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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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seelenruhig zu. »Erstens, nur damit das klar ist, sind wir keine Familie. Ich, mein Sohn und meine Tochter sind eine Familie. Du bist ein bedauernswerter Wochenendvater, der, anders als die meisten anderen, nicht hinter seinem eigenen Sohn steht, wenn’s drauf ankommt.« Sie löste ihren Blick von Hannes und merkte, wie die anderen sie anstarrten. Das Gesicht ihres Sohnes drückte Stolz aus. Sie wiederholte noch einmal: »Nur, damit das klar ist.«
    Hannes holte neben ihr tief Luft, schaffte es aber nicht, etwas zu sagen, da ihm die andere Mutter zuvorkam. »Wie passend. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen und dich darauf hinweisen, dass dein Sprössling, euer oder von mir aus dein Sohn, schon sehr bald …« Die schauspielerischen Fähigkeiten waren in dieser Familie offenbar breit gestreut. Die Frau verlieh ihren Worten eine dramatische Betonung, indem sie mit einer übertriebenen Geste auf Gylfi zeigte, »… schon sehr bald genauso ein bedauernswerter Wochenendvater sein wird wie dein Ex-Mann.«
    »Nein!«, ertönte ein Schrei. Es war Gylfi. Selbstbewusst redete er weiter: »Ich … ich meine, wir … wir bleiben zusammen. Wir mieten uns eine Wohnung und ziehen das Kind groß.«
    Dóra war plötzlich zum Lachen zumute. Gylfi mietete sich eine Wohnung! Er wusste offensichtlich nicht, dass das meiste, was er für selbstverständlich hielt – Heizung, Strom, Fernsehen, Wasser, Müllabfuhr – Geld kostete. Aus Angst, ihrem Sohn den Mut zu nehmen, mischte sie sich nicht in das Gespräch ein. Wenn er der Meinung war, er würde eine Wohnung mieten, dann war das eben so.
    »Ja!«, piepste Sigga. »Wir können das – ich bin fast sechzehn.«
    »Das ist doch Vergewaltigung!«, schrie die Frau. »Natürlich. Sie ist noch nicht mal sechzehn! Das ist Missbrauch Minderjähriger!« Sie richtete ihren Blick auf Gylfi und schrie außer sich: »Vergewaltiger!«
    Dóra war nicht ganz klar, wie dies zu einer Lösung führen sollte. Sie wendete sich an Sigga. »Wie weit bist du denn, Schatz?«
    »Ich weiß es nicht – vielleicht im dritten Monat. Jedenfalls hatte ich seit drei Monaten keine Periode mehr.« Ihr Vater errötete bis in die Haarwurzeln.
    Gylfi war vor sechs Wochen sechzehn geworden. Nicht, dass das etwas ändern würde. »Ich möchte darauf hinweisen, dass in einem Fall wie diesem gesetzlich ein Alter von vierzehn verankert ist, nicht sechzehn. Zudem war mein Sohn selbst noch keine sechzehn, als das Kind gezeugt wurde, und im Gesetz steht nichts über das Geschlecht, wenn es um sexuelle Übergriffe geht.«
    »Was soll dieses dumme Geschwätz«, blaffte der Vater. »Als ob eine Frau einen Mann vergewaltigen könnte! Geschweige denn ein Kind, wie im Fall meiner Tochter.«
    »Und meines Sohnes«, entgegnete Dóra. »Von Schuljahren ist im Gesetz nicht die Rede, das kann ich beschwören.«
    Er verzog das Gesicht. »Diese verdammten Schwuchteln im Parlament.«
    »Ihr seid doch verrückt!«, tönte Sigga. »Das ist mein Kind. Ich bin schwanger und bekomme einen dicken Bauch und hässliche Brüste und kann nicht mehr ausgehen.« Weiter kam sie nicht, denn sie brach in Tränen aus.
    Gylfi versuchte, sie auf eine Weise zu trösten, die er vermutlich für sehr romantisch hielt. Mit bewegter Stimme sagte er, sodass es alle hören konnten: »Das ist mir ganz egal – und wenn du einen richtig dicken Bauch und hängende Titten bekommst. Ich verlass dich nicht und geh mit keiner anderen aus. Ich liebe dich von allen Mädchen am meisten.«
    Sigga heulte nur noch lauter, während die Erwachsenen Gylfi mit offenen Mündern anstarrten. Irgendwie öffnete ihnen diese alberne Liebeserklärung die Augen dafür, dass Mutter Natur entschieden hatte – sie waren Kinder, die ein Kind erwarteten, und wer die Schuld daran trug, war nebensächlich.
    Dóra stand auf. »Also wisst ihr – ich habe ja keine Ahnung, welcher Schlaumeier auf die Idee gekommen ist, dass wir uns treffen.« Sie drehte sich zu Hannes. »Ihr könnt gern mit Gylfis Vater sprechen, bis in die tiefe Nacht hinein, wenn nötig. Aber mir reicht’s jetzt.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, musste sich aber noch einmal zu der Sofagruppe wenden, als ihr einfiel, dass sie ihren Sohn in Sicherheit bringen sollte. »Gylfi, komm mit!«
    Ihre abschließenden Worte richtete Dóra an die arme Sigga, die immer noch den Kopf hängen ließ und weinte. »Sigga, euer Kind ist jederzeit bei mir willkommen – und ihr beide auch, wenn ihr zusammenwohnen wollt. Auf Wiedersehen.«
    Dóra

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