Das Letzte Ritual
attraktive Gesichtszüge. Ein kräftiger Kiefer, große Zähne, ein gut geformtes Kinn und tiefe Augenhöhlen. Das musste sie von ihren Urmüttern aus grauer Vorzeit geerbt haben – sie fand Äußerlichkeiten anziehend, die auf eine gewisse Härte und Zähigkeit schließen ließen; der perfekte Jäger. Dóra nahm Platz. »Uff, jetzt habe ich aber Hunger«, sagte sie, um das Eis zu brechen.
Matthias goss aus einer Edelstahlkanne Kaffee in ihre Tasse. »Du hast eine Socke bei mir vergessen. Es war keine Wollsocke – unglaublich, aber wahr.«
Ihre Gestik ließ nicht erkennen, dass sich die beiden näher standen als beim gestrigen Abendessen, bis Matthias wie beiläufig seine Hand auf Dóras Hand legte und ihr verschwörerisch zublinzelte. Dann zog er sie wieder weg und frühstückte weiter. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, ging jeder in sein eigenes Zimmer zum Packen.
Während Dóra an der Rezeption auf Matthias wartete, klingelte ihr Handy. Es war Gylfi. »Hallo mein Schatz«, sagte sie und versuchte, möglichst natürlich zu klingen.
»Hi.« Gylfis Stimme war tief und es dauerte einen Moment, bis er sein Anliegen vortrug. »Äh, ich wollte dir doch was erzählen – wo bist du?«
»Ich bin im Hótel Rangá. Ich hab am Wochenende gearbeitet. Bist du schon zu Hause?«
»Ja.« Wieder eine Pause. »Wann kommst du zurück?«
Dóra schaute auf die Uhr. Es war kurz vor elf. »Tja, ich denke, ich bin vor ein Uhr zurück.«
»Okay. Wir sehen uns.«
»Warum bist du nicht mehr bei deinem Vater? Und wo ist deine Schwester?«, sagte Dóra schnell, bevor er auflegen konnte.
»Sie ist noch bei ihm. Ich bin schon gegangen.«
»Du bist gegangen? Warum? Hattet ihr Streit?«
»Kann man so nennen«, antwortete er. »Er hat angefangen.«
»Warum denn?« Dóra war sprachlos. Hannes hatte eine außerordentliche Begabung, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Bisher war er gut mit seinem Sohn ausgekommen, auch wenn Gylfi ihn nicht besonders unterhaltsam fand.
Gylfi stöhnte. »Er wollte was mit mir besprechen und als ich dachte, er würde mich verstehen, hab ich ihm eine bestimmte Sache erzählt und er ist völlig ausgerastet. Ich schwöre es, er ist an die Decke gegangen und hat sich fast überschlagen. Ich hatte keine Lust, mir das anzuhören. Ich dachte echt, er versteht mich.«
Dóras Gedanken wirbelten durcheinander. Ihr war klar, dass Gylfis Beschreibung der Reaktion seines Vaters übertrieben war. Was war eigentlich passiert? Dóra bedauerte es zutiefst, Hannes bedrängt zu haben, mit dem Jungen zu sprechen – das hatte die Sache offensichtlich nur verschlimmert. »Gylfi, mein Schatz, was hat deinen Vater denn so wütend gemacht? Ist es das, was du mit mir besprechen wolltest?«
»Ja.« Keine weiteren Erklärungen. Sie musste wohl oder übel auf die Lösung des Rätsels warten, bis sie sich trafen.
»Hör zu, ich bin schon unterwegs. Ich bin nicht so cholerisch und es sollte uns gelingen, die Sache in Ruhe zu besprechen. Geh nicht weg.«
»Du musst vor ein Uhr hier sein. Wir müssen Leute treffen.«
Leute? Leute? War er einer Sekte beigetreten? Dóra spürte ein Stechen in der Brust. »Gylfi – du wirst niemanden treffen, bevor ich zu Hause bin. Verstanden?«
»Sei vor ein Uhr hier«, entgegnete er. »Papa ist auch dabei.« Er verabschiedete sich und legte auf.
Dóras schlug das Herz bis zum Hals. Sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um nicht loszuschreien. Zitternd wählte sie Hannes’ Mobilnummer, aber sein Handy hatte entweder keinen Empfang oder war ausgeschaltet. Dóra starrte auf das Telefon. Hannes würde sein Handy niemals ausschalten – er hatte es immer auf dem Nachttisch liegen, falls ihn jemand mitten in der Nacht erreichen wollte. Selbst seine Reittouren plante er nach dem Telefonnetz. Dóra versuchte es auf dem Festnetzanschluss, aber niemand ging ran. Was konnte der Junge bloß gemacht haben? Hatte er angefangen zu rauchen? Unwahrscheinlich. War er drogensüchtig und musste eine Therapie machen? Nein, unmöglich. Das wäre ihr aufgefallen. War er schwul? Wollte er mit ihnen zu einem Treffen des Vereins der Lesben und Schwulen? Dann wäre Hannes bestimmt nicht so ausgerastet, denn tolerant war er, das musste man ihm lassen. Außerdem hatte sie das Gefühl gehabt, Gylfi sei in das Mädchen verliebt, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Nein, das war es nicht. Alle möglichen Ideen schossen ihr durch den Kopf, eine abwegiger als die andere. Que sera sera. Sie stand auf und hielt im
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