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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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soll ich dir noch sagen, dass du deine Sachen anständig behandeln sollst, wenn du nach Hause kommst?«
    »Ich hör nichts!«, schallte es aus dem Haus.
    Dóra verdrehte die Augen. Natürlich hörte er nichts; der Lärm von irgendeinem Computerspiel übertönte ja auch alles. »Dann stell das leiser!«, rief sie zurück. »Das schadet deinen Ohren!«
    »Komm her! Ich versteh dich nicht!«, war die gebrüllte Antwort.
    »Oh Gott«, murmelte Dóra und hängte ihren Anorak auf. Ihre Tochter räumte alle ihre Sachen ordentlich auf, und Dóra wunderte sich zum hundertsten Mal darüber, wie unterschiedlich die beiden Geschwister waren. Die Tochter war eine richtige Ordnungsfanatikerin, hatte noch nicht mal als Kleinkind viel gesabbert, und der Sohn würde am liebsten in einem Klamottenlager hausen und sich dort abends selig zur Ruhe betten. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: Beide waren überaus gewissenhaft, wenn es um die Schule und die Hausaufgaben ging. Das passte zwar gut zu Sóleys Charakter, aber bei Gylfi fand Dóra es immer sehr witzig, wenn er mit seinem langen, ungekämmten Haar und seinen Totenkopfklamotten fast einen hysterischen Anfall bekam, sobald er zufällig mal eine Rechtschreibhausaufgabe in der Schule vergessen hatte.
    Dóra stellte sich in den Türrahmen zum Zimmer ihres Sohnes. Gylfi klebte an seinem Computerbildschirm und hämmerte auf der Maus herum. »Um Gottes willen, stell das leiser, Gylfi«, sagte Dóra und musste fast schreien, obwohl sie direkt neben ihrem Sohn stand. »Ich kann bei diesem Geballere meine eigenen Gedanken nicht mehr hören.«
    Ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden oder das Hämmern auf der Maus merklich zu mindern, führte ihr Sohn seine linke Hand zu einem Knopf am Lautsprecher und stellte leiser. »So besser?«, fragte er, ohne aufzuschauen.
    »Ja, besser«, antwortete Dóra. »Stell jetzt das Ding aus und komm essen. Ich hab Spaghetti gekauft.«
    »Nur noch dieses Level«, lautete die Antwort. »Zwei Minuten noch.«
    »Aber wirklich nur zwei Minuten«, sagte sie und drehte sich auf dem Absatz um. »Nur zur Erinnerung, das geht so: eins. Und dann zwei. Nicht: eins, drei, vier, fünf, sechs und zwei.«
    »Schon gut«, maulte ihr Sohn leicht genervt und spielte weiter.
    Als das Essen eine Viertelstunde später auf dem Tisch stand, erschien Gylfi und ließ sich auf seinen Platz plumpsen. Sóley saß bereits gähnend vor ihrem Teller. Dóra hatte keine Lust, die Mahlzeit mit einem Streit zu beginnen und Gylfi daran zu erinnern, dass er länger als zwei Minuten gebraucht hatte, um sein »Level« zu beenden. Sie wollte ihm gerade klarmachen, wie wichtig dieses Familienritual war, als ihr Handy klingelte. Dóra stand auf, um ranzugehen. »Fangt schon mal an zu essen und streitet euch nicht. Ihr seid so süß, wenn ihr nett zueinander seid.« Sie griff nach dem Handy, das auf der Anrichte lag, und schaute auf die Anrufernummer, aber das Display war leer. Während sie aus der Küche ging, betätigte sie die Annahmetaste. »Dóra.«
    »Guten Abend, Frau Guðmundsdóttir«, erklang Matthias’ trockene Stimme. Er fragte, ob es gerade ungelegen sei.
    »Nein, ist schon okay«, log Dóra. Sie vermutete, es wäre Matthias unangenehm, dass sie in Wahrheit gerade beim Abendessen saß. Der Mann war so furchtbar höflich.
    »Hatten Sie Zeit, sich die Unterlagen anzusehen, die ich Ihnen gegeben habe?«, fragte er dann.
    »Ja, natürlich, allerdings noch nicht bis ins kleinste Detail«, antwortete Dóra. »Ich habe aber direkt gemerkt, dass die Ermittlungsunterlagen der Polizei nicht vollständig sind. Ich würde vorschlagen, wir stellen einen formellen Antrag auf vollständige Akteneinsicht.«
    »Unbedingt.« Eine unangenehme Stille trat ein. Im selben Moment, als Dóra noch etwas hinzufügen wollte, sprach Matthias weiter.
    »Haben Sie sich entschieden?«
    »Sie meinen den Auftrag?«, fragte Dóra.
    »Ja«, entgegnete er kurz angebunden. »Werden Sie ihn annehmen?«
    Dóra zögerte einen Augenblick, bevor sie bejahte. Wenn sie nicht alles täuschte, hörte sie Matthias vor Erleichterung scharf ausatmen. »Sehr gut«, sagte er ungewohnt keck.
    »Den Vertrag habe ich allerdings noch nicht gelesen. Ich hab ihn mit nach Hause genommen und werde ihn heute Abend durchsehen. Wenn er wirklich fair ist und den Normen entspricht, sehe ich keinen Hinderungsgrund, ihn morgen zu unterschreiben.«
    »Prima.«
    »Ähm, eine Sache ist mir aufgefallen, warum fehlt das Kapitel über die Obduktion?«

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