Das Letzte Ritual
Dóra wusste, dass dies auch bis morgen Zeit hatte, aber sie wollte trotzdem sofort eine Antwort haben.
»Ich musste einen speziellen Antrag stellen, um diese Unterlagen zu erhalten. Man hat mir nicht alles gegeben – nur eine grobe Zusammenfassung der wichtigsten Punkte. Das war mir ein bisschen zu wenig und ich habe darauf bestanden, den kompletten Bericht zu bekommen«, erklärte Matthias. »Es hat wohl damit zu tun, dass ich kein Angehöriger, sondern nur ein Bevollmächtigter der Angehörigen bin, aber das ist mittlerweile geklärt. Deshalb rufe ich Sie auch jetzt schon an.«
»Wie bitte?«, fragte Dóra, die den Zusammenhang nicht ganz verstand.
»Ich habe morgen früh um neun einen Termin bei dem Gerichtsmediziner, der Harald obduziert hat. Er will mir den Bericht geben und einige Punkte erklären. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.«
»Ach so«, entgegnete Dóra verwundert. »Okay, alles klar. Ich komme mit.«
»Gut, ich hole Sie eine halbe Stunde vorher in Ihrem Büro ab.«
Dóra biss sich auf die Zunge, sonst wäre ihr herausgerutscht, dass sie normalerweise nie so früh im Büro sei. »Halb neun. Bis dann.«
»Frau Guðmundsdóttir«, schob Matthias hinterher.
»Nennen Sie mich Dóra, das ist viel einfacher«, fiel Dóra ihm ins Wort. Sie kam sich vor wie eine neunzigjährige Witwe, wenn sie so förmlich angesprochen wurde.
»Okay, Dóra«, sagte Matthias. »Nur noch eine Bitte.«
»Was?«, fragte Dóra neugierig.
»Frühstücken Sie nicht so ausgiebig. Es wird nicht sehr appetitlich.«
7. DEZEMBER 2005
6. KAPITEL
Es gab zweifellos leichtere Dinge auf dieser Welt, als einen Parkplatz am Landeskrankenhaus zu ergattern. Matthias fand schließlich einen in beträchtlicher Entfernung zum Gebäude, in dem sich das Labor der Pathologie befand. Dóra war früh ins Büro gegangen und hatte einen Brief an die Polizei verfasst, in dem sie als Bevollmächtige der Angehörigen um Akteneinsicht bat. Der Brief befand sich bereits in einem Umschlag in Bellas Postfach. Bella würde ihn hoffentlich heute zur Post bringen, aber Dóra hatte zur Sicherheit einen Zettel auf den Umschlag geklebt: Auf keinen Fall vor dem Wochenende zur Post bringen! Dóra hatte auch schon in der Flugschule angerufen, um sich nach Haralds Kartenzahlung im September zu erkundigen. Dort erhielt sie die Information, Harald habe eine kleine Maschine mit Pilot gemietet, um an einem Tag nach Hólmavík und zurück zu fliegen. Dóra suchte im Internet nach Hólmavík und fand schnell heraus, was Harald dorthin gelockt haben dürfte – das Hexereimuseum von Strandir. Des Weiteren hatte sie im Hótel Rangá angerufen, um sich nach Haralds Reise an die Südküste zu erkundigen: Er hatte zwei Zimmer für zwei Nächte reserviert und bezahlt – im Reservierungsbuch standen die Namen Harald Guntlieb und Harry Potter. Sehr witzig. Während sie um das Landeskrankenhaus kurvten, erzählte Dóra Matthias von Haralds Ausflügen an die Südküste und nach Hólmavík.
»Na endlich«, sagte Matthias und bog in eine soeben frei gewordene Parklücke.
Sie gingen auf das Haus hinter dem Hauptgebäude zu. Es hatte in der Nacht geschneit und Matthias stapfte voraus auf dem Trampelpfad, der sich im Schnee gebildet hatte. Das Wetter war eisig und ein beißender Nordwind fuhr durch Dóras Haar. Sie hatte morgens beschlossen, ihr Haar offen zu tragen. Jetzt bedauerte sie diese Entscheidung, da der Wind es in alle Richtungen zerrte. Das wird am Ende umwerfend aussehen, dachte Dóra. Sie blieb kurz stehen, drehte den Rücken zum Wind und versuchte, ihr Haar zu bändigen, indem sie sich ihren Schal um den Kopf wickelte. Das sah nicht gerade schick aus, schützte sie aber wenigstens vor dem Wind. Dann folgte sie Matthias mit schnellen Schritten.
Als sie endlich beim Labortrakt angekommen waren, drehte sich Matthias zum ersten Mal um, seit sie das Auto verlassen hatten. Er starrte entgeistert auf den Schal um ihren Kopf. Dóra konnte sich gut vorstellen, wie elegant sie aussah, was er bestätigte, indem er die Augenbrauen hochzog und bemerkte: »Hier gibt es bestimmt eine Damentoilette, die Sie aufsuchen können.«
Dóra hielt sich zurück, obwohl sie große Lust hatte, ihm etwas an den Kopf zu werfen. Stattdessen schaute sie ihn nur grimmig an und wuchtete die Eingangstür auf. Drinnen steuerte sie auf eine Frau zu, die ein leeres Stahlwägelchen vor sich herschob, und fragte sie, wo der Arzt zu finden sei, den sie treffen wollten. Nachdem die Frau sich
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