Das Letzte Ritual
war zwar sehr interessant, aber ein sechshundert Jahre altes Buch würde wohl kaum Licht auf den Mord an Harald Guntlieb werfen. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie nur noch eine Stunde Zeit hatte. Sie heftete die Seiten zusammen, legte sie weg und nahm wieder die Mappe mit den Informationen über Harald zur Hand. Sie schlug das siebte Kapitel über die polizeiliche Ermittlung auf.
Auf den ersten Blick schien es sehr wenig Material zu sein, um die gesamte Ermittlung zu dokumentieren. Vielleicht hatte Matthias nur einen Teil davon in die Hände bekommen, wobei Dóra es einmalig fand, dass er überhaupt ohne einen offiziellen Antrag an das Material gelangt war. Sie überflog den Inhalt; Kopien der Polizeiverhöre, versehen mit Eingangsstempeln von vor zwei Wochen. Hier fühlte sie sich auf heimischem Gebiet. Es war alles in Isländisch. Matthias hatte offenbar versucht, sich durch die Unterlagen zu buchstabieren. Bei fast allen Protokollen hatte er in der rechten oberen Ecke vermerkt, wer jeweils verhört worden war und in welcher Beziehung er zu Harald gestanden hatte. Die meisten Protokolle stammten von Verhören mit Hugi þórisson, der in Untersuchungshaft saß und auf die Anklage wartete. Dóra fand es interessant, dass er von vorneherein als Verdächtiger, aber nie als Zeuge verhört worden war – irgendetwas musste also von Anfang an auf seine Schuld hingedeutet haben. Dadurch war er, im Gegensatz zu einem Zeugen, gesetzlich nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Er konnte im Grunde aussagen, was er wollte, auch wenn ihm das bei der Urteilssprechung nicht unbedingt zugute kommen würde – die Richter waren meistens wenig erfreut, wenn Angeklagte behaupteten, sie seien zum Tatzeitpunkt bei Micky Maus zum Essen eingeladen gewesen oder etwas ähnlich Glaubhaftes.
Dóra wurde langsam klar, wie Matthias an die Unterlagen gekommen war. Der Pflichtverteidiger des Tatverdächtigen hat normalerweise Zugang zu den Ermittlungsberichten der Polizei. Hugi þórissons Rechtsanwalt musste daher über die gesamten Unterlagen verfügt haben. Dóra blätterte schnell durch die Protokolle. Sie suchte ein Verhör, bei dem Hugis Rechtsanwalt zugegen gewesen war, um herauszufinden, um wen es sich handelte. Bei den ersten Verhören war Hugi allein gewesen, aber gegen Ende der Ermittlung hatte er schließlich doch noch den Wunsch nach rechtlichem Beistand geäußert. Ihm war Finnur Bogason zugeteilt worden. Dóra kannte den Pflichtverteidiger und war davon überzeugt, dass er Matthias die Unterlagen gegen angemessene Bezahlung überlassen hatte. Zufrieden mit ihrer Schlussfolgerung, begann sie, die Verhöre durchzulesen.
Die Protokolle waren nicht chronologisch, sondern nach den verhörten Personen sortiert. Einige Zeugen waren nur einmal verhört worden. In dieser Gruppe befanden sich der Hausmeister der Uni, die Putzfrauen, Haralds Vermieterin, der Taxifahrer, der Harald und Hugi an dem schicksalhaften Abend mitgenommen hatte, sowie einige Kommilitonen und Dozenten Haralds. Der Leiter der Historischen Fakultät, der die Leiche gefunden hatte, war zweimal verhört worden, da er beim ersten Mal so erregt war, dass er kein vernünftiges Wort herausbrachte. Dóra bemitleidete den armen Mann; es musste ein schreckliches Erlebnis gewesen sein. Auch beim zweiten Verhör schwang die Panik, die ihn ergriffen hatte, als ihm die Leiche in die Arme gefallen war, in jedem Satz mit.
Als Nächstes kamen diejenigen, die zumindest zeitweise unter Verdacht gestanden hatten. Darunter befand sich natürlich Hugi þórisson, der steif und fest seine Unschuld beteuerte. Dóra überflog die Hauptpunkte in Hugis Verhör. Er sagte aus, Harald an besagtem Abend bei einer Party im Skerjafjörður getroffen zu haben. Sie hätten die Party gemeinsam verlassen und sich später wieder getrennt, da Harald zurück zur Party, Hugi aber in die Stadt habe gehen wollen. Beim ersten Verhör war Hugi kaum darauf eingegangen, wohin die beiden gemeinsam gegangen seien, erwähnte nur nebenbei einen Spaziergang über den Friedhof. Als ihm beim zweiten Verhör klar wurde, dass man ihn wegen Mordes anklagen wollte, sagte er aus, sie seien zu seiner Wohnung in der Hringbraut gefahren, um Drogen zu holen, die Harald ihm abkaufen wollte. Hugi schwor, Harald danach nicht mehr gesehen zu haben, er habe keine Lust mehr gehabt, rauszugehen, und sei zu Hause geblieben. Genaue Zeitangaben konnte er aufgrund von erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum an besagtem
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