Das Letzte Ritual
– bis auf die Tatsache, dass er ziemlich schonungslos mit Haralds Mutter umgeht. Aber der Brief ist mit Blut geschrieben – mit Haralds Blut.«
»Igitt«, stieß Dóra hervor. »Von wem war der Brief? Hatte er einen Absender? Und woher wissen Sie, dass es Haralds Blut ist?«
»Der Brief ist mit Haralds Namen unterschrieben, aber ein Handschriftexperte hat herausgefunden, dass es nicht Haralds Schrift ist. Er konnte es nicht hundertprozentig nachweisen, da der Text mit einem groben Schreibwerkzeug geschrieben wurde und sich daher schlecht mit Haralds Handschrift vergleichen lässt. Im Labor kam man zu dem Schluss, dass es sich um Haralds Blut handelt. Allerdings fand man auch Spuren von Sperlingsblut, das mit Haralds Blut vermischt worden war.«
Dóra riss die Augen auf. Sperlingsblut? Das fand sie sogar noch abstoßender als Menschenblut. »Was stand denn eigentlich in dem Brief?«, fragte sie. »Haben Sie ihn dabei?«
»Ich habe das Original nicht dabei, falls Sie das meinen«, entgegnete Matthias. »Haralds Mutter gibt weder das Original noch eine Kopie aus der Hand. Vielleicht hat sie den Brief sogar vernichtet. Er war ziemlich unangenehm.«
Dóra sah ihn enttäuscht an. »Und jetzt? Ich muss wissen, was drinstand. Haben Sie den Brief übersetzen lassen?«
Er schaute Dóra an und grinste. »Sie haben Glück: Ich wurde nämlich beauftragt, es zu übersetzen – mit Hilfe des deutsch-isländischen Wörterbuchs. Die Übersetzung ist bestimmt nicht preisverdächtig, aber der Sinn sollte deutlich werden.« Während Matthias sprach, zog er ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seines Jacketts. Er reichte es Dóra. »Manche Buchstaben habe ich nicht richtig hingekriegt.«
ICH SCHAU DICH AN
UND DU LIEBST MICH
VON GANZEM HERZEN.
NIRGENDS SOLLST DU WEILEN,
NICHTS ERDULDEN KÖNNEN,
WENN DU MICH NICHT LIEBST.
ICH RUFE ZU ODIN
UND ALL JENEN,
DIE DER RUNEN
MÄCHTIG SIND.
MÖGEST DU NIRGENDS
AUF DER WELT
RUHE FINDEN
UND FRIEDEN,
WENN DU MICH NICHT
VON GANZEM HERZEN LIEBST.
DEINE KNOCHEN
UND DEIN LEIB
SOLLEN IM FEUER LODERN.
NIE SOLLST DU HOCHZEIT HALTEN,
WENN DU MICH NICHT LIEBST,
DEINE FÜSSE GEFRIEREN,
NIE WIRD DIR EHRE
ODER GLÜCK ZUTEIL.
BRENNEN SOLLST DU,
DEIN HAAR VERWESE,
DEINE KLEIDUNG ZERLUMPE,
WENN DU MIR NICHT
ZU WILLEN BIST.
Dóra konnte sich nur schwer vorstellen, wie viel Blut notwendig war, um all diese Buchstaben zu Papier zu bringen. Matthias hatte das Gedicht in Großbuchstaben geschrieben, vermutlich wie im Original.
Beim Lesen beschlich Dóra ein unheimliches Gefühl – das Gedicht war wirklich eigenartig. Sie schaute Matthias an. »Ich kenne es leider nicht. Wer macht denn so was?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Matthias. »Das Original war noch makaberer, es war auf Haut geschrieben – auf Kalbsleder. Wer der Mutter eines Verstorbenen so etwas antut, muss krank sein.«
»Warum der Mutter? War der Brief nicht auch an den Vater adressiert?«
»Es stand noch mehr dabei, auf Deutsch. Ein kurzer Zusatz – ungefähr so: Mama – ich hoffe das Gedicht und das Geschenk gefallen dir – dein Sohn Harri. Das Wort ›Sohn‹ war zweimal unterstrichen.«
Dóra blickte von dem Zettel zu Matthias. »Welches Geschenk? War noch etwas dabei?«
»Nein, die Guntliebs haben nichts weiter erwähnt und ich glaube ihnen. Sie waren völlig durcheinander, als sie den Brief bekamen. Sie hätten in dem Moment gar nicht die Unwahrheit sagen können.«
»Warum ist der Brief mit Harri unterschrieben? Ist dem Verfasser das Blut ausgegangen?«
»Nein, als Kind wurde Harald von seinem älteren Bruder Harri genannt. Diesen Spitznamen kennen nur wenige – das ist einer der Gründe, warum der Brief so starke Wirkung auf seine Mutter ausübte.«
Dóra schaute Matthias an. »Hat sie ihn schlecht behandelt? Ist das möglich?« Sie dachte an die Fotos mit dem kleinen, teilnahmslosen Jungen.
Matthias antwortete nicht direkt. Er versuchte, die richtigen Worte zu finden – schließlich handelte es sich um seine Arbeitgeber, die er anscheinend sehr schätzte. »Ich schwöre, ich weiß es nicht. Es war, als ginge sie ihm aus dem Weg. Ich bin sicher, Frau Guntlieb hätte den Brief der isländischen Polizei übergeben, wenn ihr Verhältnis zu Harald besser gewesen wäre. Er traf einen wunden Punkt.« Matthias schwieg einen Moment und schaute Dóra nachdenklich an, dann redete er weiter. »Sie möchte mit Ihnen sprechen. Von Mutter zu Mutter.«
»Mit mir?«
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