Das Letzte Ritual
das in dem Regal über dem Schreibtisch stand. Es war das Foto einer behinderten jungen Frau im Rollstuhl. Man musste kein Detektiv sein, um sofort zu erkennen, dass es sich um Haralds vor einigen Jahren verstorbene Schwester handelte. Wie hieß sie noch gleich? Anna? Nein, aber es war ein Name mit A. Nicht Agathe und nicht Angelika. Amelia – sie hieß Amelia Guntlieb. Dóra tippte den Namen ein. Nichts passierte. Sie seufzte und versuchte dann noch einmal dasselbe mit Kleinbuchstaben, ohne das große A am Anfang – amelia.
Bingo! Der Computer gab den Windows-Ton »du-du-duduuuu« von sich und Dóra war drin. Sie überlegte, wie lange die Polizei wohl an dem Passwort herumgerätselt hatte, rief sich dann aber ins Bewusstsein, dass es dort irgendeinen Computerfreak geben musste, der durch die Hintertür hineingelangt sein dürfte. Die Beamten würden wohl kaum stundenlang dasitzen und ein Wort nach dem anderen ausprobieren. Das Bildschirmmotiv war eher ungewöhnlich und Dóra brauchte eine Weile, bis sie es erkannte. Man blickte schließlich nicht jeden Tag auf einem siebzehn Zoll großen Bildschirm in eine Mundhöhle. Geschweige denn in eine Mundhöhle, in der die Zunge an beiden Seiten mit Zangen aus rostfreiem Stahl festgeklemmt war. In der Mitte der Zungenspitze, oder besser gesagt der Zungenspitzen, war ein feuerroter Schlitz. Obwohl Dóra in diesen Dingen nicht sehr bewandert war, wusste sie, dass die Aufnahme bei der Spaltung der Zunge gemacht worden war. Entweder war die Operation noch im Gange oder gerade fertig. Dóra hätte um alles gewettet, wer der Eigentümer der Zunge war. Es musste Harald persönlich sein. Sie schüttelte sich vor Ekel.
Im Computer befanden sich ungefähr vierhundert Schriftdateien. Dóra sortierte sie chronologisch, sodass die jüngsten zuerst erschienen. Die Dateibezeichnungen sprachen für sich. Zuoberst reihten sich Dateien aneinander, deren Namen alle das Wort Hexen enthielten. Da es schon spät war, holte Dóra ihre Handtasche und kramte ihren USB-Stick heraus. Dann kopierte sie alle Hexendateien darauf, um sie sich in aller Ruhe abends zu Hause ansehen zu können – vorausgesetzt, Matthias vertraute ihr den Grund an, den die Guntliebs ihr bis jetzt verschwiegen hatten. Ansonsten müsste sie am Abend mal ausrechnen, ob sie es sich leisten könnte, die Guntliebs zur Hölle zu wünschen. Sie hatte keinerlei Interesse daran, als eine Art Luxusdienstmädchen zu fungieren.
Matthias war immer noch verschwunden. Dóra beschloss, einen Blick auf die heruntergeladenen Dateien auf der Festplatte zu werfen. Sie bat den kleinen Hund im Suchprogramm, alle Dateien mit dem Kürzel pdf zu suchen und bekam zur Belohnung etwa sechzig Dateien. Diese sortierte sie chronologisch und kopierte die neuesten auf ihren USB-Stick. Heute Abend hatte sie jedenfalls genug zu tun. Als Nächstes kam Dóra auf die Idee, die Fotos auf der Festplatte durchzusehen. Harald hatte offenbar eine Digitalkamera besessen und sie fleißig benutzt. Sie öffnete den Fotoordner im Ansichtsmodus, um sich einen Eindruck von dessen Inhalt zu verschaffen. Wieder sortierte sie die Dateien chronologisch. Die jüngsten Fotos waren in der Wohnung gemacht worden. Die Motive waren etwas merkwürdig – die meisten zeigten das Zubereiten einer Mahlzeit in der Küche. Auf den Fotos war keine Person zu sehen, aber auf zweien erkannte Dóra Hände. Sie kopierte die Bilder auf den USB-Stick, falls es sich um die Hände des Mörders handeln sollte. Man konnte nie wissen. Die übrigen Fotos von dem leckeren Pastagericht in verschiedenen Zubereitungsstadien ließ sie, wo sie waren.
Dóra scrollte weiter nach unten. Viele Fotos waren für die Abgelichteten recht verfänglich, denn sie waren bei unterschiedlichen sexuellen Handlungen geknipst worden. Dóra errötete an Stelle der Betroffenen, je mehr Bilder sie über den Bildschirm flimmern sah. Des Weiteren stieß Dóra auf eine Vielzahl von Bildern von der Zungenoperation, darunter auch Haralds Bildschirmhintergrund. Man konnte nicht erkennen, welche Personen dabei gewesen waren, aber es waren Körperausschnitte zu sehen. Deshalb kopierte Dóra diese Fotos auf den USB-Stick. Es gab noch alle möglichen Schnappschüsse von Partys, bei denen es ziemlich hoch hergegangen sein musste, und dazwischen, wie die Faust aufs Auge, Landschaftsfotos von Reisen durch Island.
Einige waren sehr dunkel und zeigten nur graue Felswände. Dóra glaubte auf einem vergrößerten Foto ein in den Stein
Weitere Kostenlose Bücher