Das Letzte Ritual
Wand. »Dies ist ein Beispiel für Reichtum – das Seemauszeichen oder der Ringhelm. Dafür muss man dieses magische Symbol, das Ringhelmzeichen, mit dem Menstruationsblut einer Jungfrau auf das Fell eines schwarzen Katers zeichnen.«
Matthias verzog das Gesicht. Als þorgrímur es bemerkte, sagte er unwirsch zu dem Deutschen: »Wir haben karminrote Tinte verwendet.« Dann erklärte er weiter: »In den Volkssagen heißt es, man muss ein kleines Tier fangen. Es lebt am Strand und nennt sich Seemaus oder Seeraupe. Man fängt es mit einem Netz aus dem Haar einer Jungfrau.« Dóra spürte, wie Matthias mit der Hand über ihr langes, offenes Haar strich. Sie bemühte sich, nicht loszuprusten, und schob seine Hand unauffällig weg. »Dann muss man der Maus in einem Holzkasten ein Nest aus Haaren bereiten und ein gestohlenes Geldstück hineinlegen. Die Maus zieht daraufhin einen Schatz aus dem Meer in das Kästchen. Man muss das Kästchen mit dem Ringhelmsymbol versiegeln, damit die Maus nicht entkommen kann – sonst gibt es über dem Meer ein Unwetter.«
Er drehte sich zu ihnen. »Die Leute glaubten wirklich daran.«
»Ja«, entgegnete Matthias und zeigte auf eine Wand mit einer Glasvitrine, in der sich die untere Körperhälfte eines Mannes befand. »Was zum Teufel ist das denn?«
»Ah, das ist eines unserer beliebtesten Exponate. Eine Leichenhose. Sie sorgte ebenfalls für Reichtum.« þorgrímur ging zu der Vitrine. »Es handelt sich natürlich um eine Nachbildung – das ist ja offensichtlich.« Dóra und Matthias nickten eifrig. Hinter der Glasscheibe befand sich die Haut der unteren Körperhälfte eines Mannes; sie war ausgehöhlt. Das Ding erinnerte Dóra an ekelhafte, bleiche Strumpfhosen, behaart und mit Geschlechtsteilen. »Um an eine Leichenhose zu kommen, muss man mit einem Mann einen Vertrag abschließen, der besagt, dass man nach dessen Tod die Haut seiner unteren Körperhälfte abziehen darf. Wenn der Mann verstorben ist, wird seine Leiche ausgegraben und seine Haut von der Taille an abwärts in einem Stück abgezogen. Dann kann der Vertragspartner die Leichenhose anziehen und sie wird sofort mit ihm verwachsen. Wenn er im Hodensack eine Münze aufbewahrt – eine Münze, die er einer armen Witwe an Weihnachten, Ostern oder Pfingsten stiehlt – werden beständig Münzen in den Hodensack gelangen, sodass er immer genug Geld hat.«
»Hätte man sich dafür nicht eine andere Stelle aussuchen können?«, fragte Dóra, doch þorgrímur zuckte nur die Achseln und ging mit ihnen zu einem großen Bild von einer Frau in einem langen, groben Rock, wie es damals Sitte war. Die Frau saß mit hochgezogenem Rock da, sodass ihr nackter Schenkel zu sehen war. An dem Schenkel war eine Warze oder eine andere Verunstaltung zu erkennen.
»Und was ist das?«, fragte Matthias.
»Sie wissen bestimmt, dass in Island überwiegend Männer wegen Hexerei getötet wurden; auf zwanzig Männer kam eine Frau. Die Zauberei war hierzulande anscheinend vor allem ein Männerberuf – anders als im übrigen Europa. Dieser Zauber, Tilberi, ist interessant, da es sich um den einzigen isländischen Zauber handelt, der nur von Frauen ausgeführt werden konnte. Um einen Tilberi zu bekommen, muss die Frau in der Nacht zum Pfingstsonntag aus einem Grab eine menschliche Rippe stehlen, sie in Wolle wickeln und unter der Kleidung zwischen ihren Brüsten aufbewahren. Dann muss sie dreimal hintereinander das Heilige Abendmahl empfangen, den Messwein auf das Bündel spucken und es dadurch zum Leben erwecken. Daraufhin wächst der Tilberi. Um ihn weiterhin unter ihren Kleidern verstecken zu können, muss die Frau mit einem Stück Haut an der Innenseite ihres Schenkels eine Zitze formen. Daraus saugt der Tilberi seine Nahrung – zwischendurch streicht er durch die Gemeinden und stiehlt von Schafen und Kühen Milch. Diese speit er morgens in das Butterfass der Frau.«
»Der Arme war ja nicht gerade ansehnlich«, bemerkte Dóra und zeigte auf das Ausstellungsstück. Die Nachahmung des Tilberi war in Wolle gehüllt. Nur der geöffnete, zahnlose Mund und zwei kleine, weiße Augen ohne Pupillen lugten daraus hervor.
Matthias’ Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er derselben Meinung. »Diese eine Frau, die wegen Hexerei getötet wurde, hatte sie auch einen Tilberi?«
»Nein. Es gab allerdings 1635 einen Fall im Südwesten des Landes. Eine Frau und ihre Mutter wurden verdächtigt, einen Tilberi zu besitzen. Die Sache wurde untersucht, stellte
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