Das letzte Sakrament
»Sie wollen mich vom rechten Weg abbringen! Doch was ich getan habe, war Gottes Wille!«
Pandera begriff, dass jedes weitere Wort überflüssig war. Es war das Ende. Er könnte den Priester anflehen, ihm sagen, er habe Frau und Kinder, doch es würde nichts ändern. Kunens Entscheidung war gefallen.
»Zurück an das Geländer!«, befahl der Vikar. »Wenn Sie ein letztes Mal beten wollen, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür.«
Pandera faltete die Hände. Doch ihm war nicht nach Beten zumute. Er dachte an seine Eltern, die viel zu früh gestorben waren.
Er dachte an Jackie, an Lara und Ben. Er dachte sogar an seine Schwiegereltern. Er würde sie alle vermissen. Er würde das Leben vermissen. Ja, er würde es sogar vermissen, neben Deckert im Drive-in zu sitzen, während der einen Hamburger nach dem anderen in sich hineinstopfte.
Pandera löste seine Hände und legte sie auf das Geländer.
Er war bereit.
88
Kunen traute dem Kommissar nicht, auch wenn es schien, als habe dieser aufgegeben. Der Mann stand reglos da und wartete auf den Schuss. Plötzlich blickte er hinunter auf den nassen Dielenboden.
Kunen folgte dem Blick. Da! Irgendetwas bewegte sich, direkt neben der Trennwand. Es funkelte. Kunen machte einen Schritt auf den Kommissar zu.
Und noch einen.
Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Jemand hatte gefilmt, was hier passiert war.
Der Vikar war nur einen winzigen Augenblick lang unachtsam, doch der genügte. Zu spät sah er, wie der Kommissar in sein Jackett griff und eine Pistole zog. Dann fiel ein Schuss.
Kunen hob noch die Waffe, krümmte den Finger am Abzug, doch es war zu spät. Er sackte zur Seite. Das Maschinengewehr spuckte ein paar Schüsse aus, doch sie peitschten durch den Regen in die Dunkelheit. Kunen ließ die Waffe fallen und brach zusammen.
Er spürte, wie eine Hand sich unter seinen Kopf schob. Unter seinen flatternden Lidern sah er, dass der Kommissar sich zu ihm herunterbeugte.
»Ich wollte die Kirche retten«, flüsterte Kunen und schluckte. »Vergeben Sie mir?«
Pandera nickte.
»Ich vergebe Ihnen auch …« Mit zitternden Fingern bekreuzigte er sich. Dann schloss er die Augen. Sein Kopf sackte zur Seite. Er war tot.
Alex Pandera hatte gehofft, nie einen Menschen töten zu müssen. Jetzt war es geschehen. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Es war noch nicht vorbei!
Pandera blickte an den Rand des Balkonbodens. Was hatte dort gefunkelt? Was hatte Kunen irritiert?
Nur wenige Augenblicke später fand der Kommissar die knopflochgroße Kamera am Boden der Trennwand.
Ohne zu überlegen, trat er zu. Die Kamera zerplatzte unter seinen Schuhen wie eine Küchenschabe.
Sie hatte ihm zwar das Leben gerettet, aber sie hätte genauso gut auch seinen Tod filmen können. Sie war seelenlos. Und Pandera ahnte auch schon, wer dahintersteckte. Doch auch das war jetzt nicht wichtig.
Er stürmte zurück in die Kabine und beugte sich über Wismut. Die Haut des Wissenschaftlers fühlte sich kalt an. Er hatte die Augen geschlossen. Pandera nahm das Handgelenk und fühlte den Puls. Er war nur noch ganz schwach zu spüren.
Pandera legte die Hand auf die Stirn des Wissenschaftlers. »Professor Wismut?«
Er öffnete seine Augen. »Wo ist der Priester?«
»Er ist tot.«
Wismut seufzte. »Sie müssen …« Er hustete und spuckte Blut. »Retten Sie den Jungen! Er ist … der einzige … Unschuldige.«
89
Casablanca . Natürlich kannte Pandera den Film mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman. Er dachte an die Szenen in Rick’s Café und am Flughafen.
Doch er wusste, dass der Film in einem Hollywood-Studio gedreht worden war, selbst die Außenaufnahmen stammen aus Los Angeles. Und doch stellten sich auch heute noch viele die größte Stadt Marokkos so vor, wie der berühmte Film sie zeigte. Inzwischen gibt es sogar ein Rick’s Café in der Stadt. Wahrscheinlich hatten die Einwohner keine Lust mehr, den Touristen zu erklären, dass es dieses Café nie gegeben hatte.
Alex Pandera war noch nie in Casablanca gewesen. In einer Stunde würden sie dort anlegen. Er freute sich darauf, zumal er gestern den ganzen Tag von der algerischen Polizei verhört worden war. Er hatte ihnen das gesagt, was jeder wusste.
Oder zu wissen glaubte.
Ein paar Dinge hatte er für sich behalten. Dass Professor Wismut in seinen Armen gestorben war und ihm alles erzählt hatte. Den Jungen hatte Pandera in der Kabine nebenan gefunden, genau wie Wismut gesagt hatte. Der Kleine war im Bad gewesen,
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