Das letzte Sakrament
Fingerspitzen, doch der Sturm zerrte an ihm wie an einem Blatt im Herbst.
Seine Finger krallten sich fest. Sie schmerzten, doch sie hielten ihn. Seine Füße fanden wieder Halt auf dem Geländer.
Pandera presste seinen Körper an die Trennwand und wollte verschnaufen, doch sein Blick fiel hinunter in das dunkle Meer. Magisch zog es ihn an. Er schloss die Augen, doch es half nichts, seine Knie zitterten. Er musste weiter. Stillstand bedeutete Tod.
Er schob seine Füße auf dem Geländer entlang, ganz langsam, immer näher zu der anderen Kabine. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er sich endlich an der Trennwand vorbeigeschoben hatte. Wieder erfasste ihn ein kräftiger Windstoß, doch da hatte Pandera schon seinen rechten Fuß auf den Balkon gestellt. Geduckt zog er seinen Körper nach, atmete noch einmal tief durch und blickte durch den dichten Regen in die Kabine.
Er erkannte die beiden Männer sofort. Vikar Simon Kunen, bewaffnet mit einem goldenen Ding, das aussah wie eine Mischung aus Maschinengewehr und Kreuz. Und Professor Franz Wismut, die Hände erhoben. Hinter dem Professor stand ein kleines Reisebett aus rotem Plastik. Darin lag ein Kind. Nur der Kopf mit den schwarzen Haaren schaute unter der Bettdecke hervor. Auch wenn Pandera das Gesicht des Jungen nicht erkennen konnte, war er sicher: Das war er. Er, den alle suchten. Der Jesusklon.
Durch die geschlossene Balkontür konnte Pandera nichts hören, aber was er sah, sagte mehr als alle Worte. Wismut stand vor dem Kind, breitete die Arme aus, wie um das Kind zu schützen. Kunen bedrängte ihn, wollte einen Blick auf den Jungen werfen, doch der Professor ließ es nicht zu.
Dann ging alles viel zu schnell.
Der Vikar drückte ab. Pandera hörte einen Schuss. Das weiße Hemd des Wissenschaftlers färbte sich dunkelrot. Wismut hielt sich die Hände vor den Bauch, entsetzt starrte er Kunen an. Pandera wollte eingreifen und rüttelte mit einer Hand an der Balkontür, während er mit der anderen seine Waffe ziehen wollte. Doch die Tür war verschlossen.
Die beiden Männer sahen erschrocken zur Tür. Kunen richtete seine Waffe auf den Kommissar. Pandera ließ die Beretta im Schulterholster, er war zu spät gekommen.
Wismut erkannte seine Chance, warf sich auf Kunen und versuchte, ihm das Kreuz zu entreißen. Doch Kunen reagierte so schnell, wie es nur ein Soldat konnte. Er stieß den Wissenschaftler weg, hob das Maschinengewehr und drückte ab.
Wismut zuckte getroffen zusammen und ging neben dem Kinderbett in die Knie.
Jetzt war der Weg für Kunen frei. Aus mehreren Metern Entfernung zielte er auf das Kinderbett. Die Kugeln durchschlugen das Bettchen, als sei es aus Pappe. Der kleine Junge bewegte sich nicht.
Noch bevor Pandera reagieren konnte, richtete Kunen seine Waffe auf ihn. Pandera hob die Hände. Er sah, wie Wismut immer blasser wurde und schließlich neben dem Reisebettchen zu Boden sackte.
Simon Kunen kam mit erhobener Waffe auf Pandera zu.
85
Der Wind warf den eisigen Regen in immer neuen Wellen auf den Balkon. Alex Pandera starrte auf die Mündung des tödlichen Kreuzes, die auf ihn gerichtet war. Mit erhobenen Händen wich er immer weiter zurück, bis er das Geländer in seinem Rücken spürte. Vor wenigen Augenblicken hatte er mitansehen müssen, wie Simon Kunen zwei Menschen erschossen hatte. Was würde der Priester als Nächstes tun? Sicher nicht auf die Knie fallen und um Vergebung bitten.
Dieses Kreuz kam direkt aus der Hölle. Die Schüsse hatten gedämpft geklungen, es schien also einen Schalldämpfer zu haben. Pandera bezweifelte, dass irgendjemand anderes die Schüsse gehört hatte, zumal der tosende Sturm jedes Geräusch verschluckte wie ein kreischendes Ungeheuer. Er wusste, von diesem Balkon würde ihn niemand retten.
Ohne einen Blick auf den Professor oder den Jungen zu richten, kam Vikar Kunen auf ihn zu. Vor der Balkontür blieb er stehen. Der Blick des Priesters war kalt und entschlossen. Kunen öffnete die Tür mit der einen Hand und hielt mit der anderen die Waffe wie ein Profi, als habe er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Pandera wusste, dass jeder Versuch, den Priester zu überwältigen, zwecklos wäre. Der Mann würde sofort abdrücken.
»Los, rein! Aber mit erhobenen Händen!«, schrie Kunen in den Wind hinein.
Pandera ging langsam auf die Kabine zu. Kaum hatte er sie betreten, stellte der Vikar sich hinter ihn und drückte ihm den Lauf der Waffe in den Rücken. »Habe ich mich gestern doch nicht
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