Das letzte Sakrament
tiefere Sinn erschließt sich einem mitunter erst nach langer Zeit.«
»Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu Bruder Vogt aus Bern?«, fragte Tamara unvermittelt.
»Ich verstehe nicht …«
»Sie kennen ihn doch, oder?«
»Ja, aber was hat das mit Ihrem Fall zu tun?«
»Einer der Mitarbeiter des Berner Inselspitals wurde ermordet.«
»Und was hat Bruder Vogt damit zu tun?«
»Halten Sie ihn für fähig, einen Mord zu begehen?«
»Jeder ist fähig, einen Mord zu begehen«, antwortete der Vikar. Obwohl er flüsterte, klang seine Stimme sehr klar und bestimmt.
»Ungewöhnliche Worte für einen Priester«, erwiderte Tamara und ließ ihren Blick zum Altar schweifen. »Und das im Hause Gottes.«
»Die Wahrheit ist hier immer willkommen«, antwortete Kunen nun wieder etwas lauter. Er strich sich über seine Glatze. »Nehmen Sie als Beispiel Georg Elser. Haben Sie von ihm gehört? Ein sehr gläubiger und friedlicher Mann. Doch er wollte einen Mord begehen, einen Mord, den jeder von uns auch begangen hätte. Zumindest jeder, der ein wenig Verstand besaß.«
»Elser? Nein.«
»Georg Elser war ein einfacher Schreiner. Und doch hat er 1939 versucht, Adolf Hitler und die ganze NS-Führungsriege in die Luft zu sprengen. Elser hat die Tat fast ein Jahr lang akribisch vorbereitet. Es war am 8. November 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Hitler kam wie gewohnt in den Bürgerbräukeller in München und begann pünktlich um zwanzig Uhr seine Rede. Sie war bis zweiundzwanzig Uhr angesetzt. Alle SS-Größen waren anwesend. Elser hatte die Bombe in einer Säule versteckt.«
»Und dann? Hat die Bombe nicht gezündet?«
»Doch, sie hat gezündet«, Kunen schüttelte den Kopf, »Pünktlich auf die Minute und doch zu spät, weil Hitler seine Rede wegen eines Unwetters früher beendet hat und abgereist ist. Dreizehn Minuten zu früh … Das Attentat hat acht Menschen in den Tod gerissen.« Kunen machte eine Pause. »Dreizehn Minuten, und die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen …«
»Das wusste ich nicht«, sagte Tamara leise. »Was ist mit Elser nach dem Attentat passiert?«
»Er wollte in die Schweiz flüchten, wurde aber noch auf deutscher Seite festgenommen, in ein KZ gesteckt und wenige Wochen vor Kriegsende auf Hitlers Befehl hin ermordet.«
»Und alles wegen eines Unwetters?«, fragte Aerni. »Hätte Gott das nicht verhindern können? Der Zweite Weltkrieg wäre vielleicht schon zu Ende gewesen, bevor er richtig ausgebrochen war? Millionen von Menschen hätten den Krieg überlebt.«
»Sie besitzen eine sehr naive Form des Glaubens«, entgegnete Kunen. »Gott greift nicht einfach in das Weltgeschehen ein, auch wenn viele sich das wünschen. Er gibt nur die Regeln vor, nach denen wir uns zu richten haben.«
»Und eine der Regeln ist Du sollst nicht töten «, widersprach Tamara.
»Wollen Sie jetzt mit mir über Ihren Glauben diskutieren oder geht es um die Aufklärung eines Mordfalles?«
»Wir diskutieren nicht über meinen Glauben, sondern über Ihren . Aber wenn Sie so nett darum bitten, können wir gerne wieder über den Fall reden. Also, wo waren Sie in der Nacht vom vierten auf den fünften August?«
»Ich verbringe jeden Abend in der Bistumswohnung und gehe früh zu Bett«, antwortete der Vikar.
»Gibt es Zeugen dafür?«
»Nein, in der Regel bin ich allein in meiner Wohnung.«
»Gilt das auch für die Nacht, in der Roland Obrist ermordet wurde?«
»Exakt«, antwortete Kunen. »Das Leben als Mönch verlangt, dass man viel Zeit im Gespräch mit sich selbst verbringt.«
»Das kann man auch im Gefängnis«, bemerkte Tamara. »Sie haben ein Motiv, aber kein Alibi.«
»Ihr Motiv ist genauso vage, als wenn ich behaupten würde, ein Moslem hätte Bruder Obrist ermordet, weil der Koran fordert, die Ungläubigen zu töten.«
»Das fordert er nicht!«, widersprach Tamara.
»Dann sehen Sie ja selbst, wie widersinnig dieses Motiv ist.« Kunen erhob sich. »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Tamara schüttelte den Kopf. Sie stand auf und ließ sich vom Vikar zum Portal der Kathedrale begleiten.
»Eines würde ich gerne noch wissen«, sagte sie. »Wie ist der Überfall auf Ihren Transporter damals eigentlich ausgegangen?«
Der Vikar trat näher zu ihr. »Ich habe als Einziger überlebt«, antwortete er leise.
»Und von den Angreifern?«
»Ich habe doch gesagt, ich habe als Einziger überlebt«, wiederholte Kunen. »An dem Tag habe ich mehr Männer getötet als meine gesamte Einheit
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