Das letzte Sakrament
Kreuz baumelte. Mit seinem langen Bart wirkte er im ersten Moment wie ein Landstreicher. Oder, hätte er das Kreuz nicht getragen, wie ein moslemischer Terrorist.
»Hier liegen meine Vorgänger«, sagte der Bischof und zeigte auf eine Reihe steinerner Särge und Grabplatten, die sich in einem separaten Raum hinter dem Altar befanden. »Sie wurden bestattet, als die christliche Kirche noch nicht gespalten war.« Seufzend setzte Obrist sich auf einen der Stühle. Die Kommissarin nahm neben ihm Platz.
»Wie gefällt Ihnen das Münster?«, fragte der Bischof.
»Äh …« Tamara stockte. Sie fühlte sich wie eine Touristin. »Ganz schön, aber vielleicht etwas nüchtern.«
»Sie haben es erfasst«, antwortete Obrist. »Diese Kirche diente einst auch in ihrem Innern der Verherrlichung Gottes. Bis die Protestanten im Basler Bildersturm alles zerstört haben! Die Reliquien, die Gemälde und die Statuen! Selbst die Wandmalereien wurden übertüncht!« Er deutete auf ein nur unvollständig erhaltenes Deckengemälde. Es zeigte Szenen aus dem Leben Marias. »Das ist alles, was von der ehemaligen Pracht geblieben ist.«
»Ich muss zugeben, ich habe noch nie vom Basler Bildersturm gehört. Wann war das?«
»Am 9. Februar 1529«, antwortete er, ohne nachzudenken.
»Und wer hat die Kirche übernommen?«
»Zwingli und seine Helfershelfer.«
»Zwingli? Der Reformator? Warum hat er denn die Bilder zerstört?«
»Weil Bilder nur dem Götzendienst dienen würden. Aber wer Bilder übermalt und jahrhundertealte Statuen umstürzt, ist nicht besser als jemand, der Bücher verbrennt.«
Tamara wollte dem Bischof zustimmen, doch dieser war noch nicht fertig. »Haben Sie draußen am Turm die Statue des heiligen Martin gesehen?«, fragte er. »Es ist eine der wenigen, die den Bildersturm überlebt hat.«
Tamara schüttelte den Kopf.
»Ursprünglich war darauf auch der Bettler abgebildet, mit dem St. Martin seinen Mantel geteilt hat. Doch aus dem Bettler hat man Anfang des siebzehnten Jahrhunderts einen Baumstumpf gemeißelt.«
»Warum das denn?«
»Manche sind anscheinend der Meinung, Bettler gehören nicht in die Kirche.«
»Und doch glauben Sie an denselben Gott.« Tamara hatte vieles erwartet, aber nicht, dass dieses Gespräch in eine Lektion über Kirchengeschichte ausarten würde.
»Wir glauben an denselben Gott.« Der Bischof nickte. »Aber auf unterschiedliche Art und Weise.« Sein Mund zog sich zu einem schmalen Streifen zusammen. »Die Kirche wurde damals unwiderruflich gespalten. Und die Gefahr besteht, dass es zu einer weiteren Spaltung kommt!«
»Der Jesusklon?«
Der Bischof nickte. »Es gibt verschiedene Wege, das zu verhindern«, erklärte er. »Und ich befürchte …« Der eben noch so selbstsichere Bischof geriet ins Stocken. Es schien, als überlege er sich jedes seiner Worte zweimal.
»Was befürchten Sie?« Eine dunkle Ahnung erfasste Tamara.
»Der Vikar … Herr Kunen … Wir sind nicht in allen Punkten der gleichen Meinung«, sagte Obrist stockend. »Wie Sie wissen, gab es früher schon einmal Probleme zwischen ihm und meinem verstorbenen Bruder.«
Tamara blickte den Bischof mit wachen Augen an. Sie wusste, wenn ein Verdächtiger erst einmal angefangen hatte zu reden, war es das Beste, ihn nicht zu unterbrechen. Beim Bischof würde das nicht anders sein.
»Ich wollte von Anfang an mit der Polizei kooperieren«, betonte Obrist. »Aber Vikar Kunen war dagegen. Ich habe auf ihn gehört … Das war ein Fehler.« Der Bischof blickte zu Boden. »Kunen ist meine rechte Hand, und er ist sehr erfahren in solchen Situationen. Er hat schon manche unschöne Verwicklung entwirrt, immer im Einklang mit den Regeln des Ordens. Daher habe ich ihm vertraut.«
Tamara nickte, auch wenn sie sich bewusst war, dass die Regeln des Ordens nicht immer mit denen des Gesetzgebers übereinstimmten. Deckert hatte ihr das mehr als deutlich gemacht.
»Ich habe lange Zeit nicht verstanden, warum er nicht mit der Polizei zusammenarbeiten wollte.« Obrist seufzte und bekreuzigte sich. »Doch gestern ist mir vieles klar geworden.«
71
Ein paar dreiste Lügen auf Basis tief verwurzelter Vorurteile, herzzerreißende Emotionen und der Vorwurf brutaler Gewalt gegen Kinder. So wiegelte man das Volk auf! Dabei war es gleichgültig, ob die Anschuldigungen gegen den Feind der Wahrheit entsprachen. Denn selbst, wenn der Feind sich noch wehren konnte, glaubte man ihm nicht.
Diese Methode hatte schon vor Herodes funktioniert, mit ihm und nach
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