Das letzte Sakrament
hatte! Aber nicht zum Positiven!
Es war wie vor zweitausend Jahren: ein wildes Durcheinander von Meinungen, Lügen und Intrigen. Es gab Pharisäer, Gläubige und Mörder. Und vielleicht sogar ein bisschen Wahrheit.
Die neuen Christen, wie sie sich nannten, fühlten sich im Recht. Sie konnten sich auf die Vorkommnisse vor zwei Jahrtausenden berufen. Auch damals hatten die Christen als Erste die neuen Zeichen erkannt. Auch damals waren sie gegen die allgemeine Meinung und gegen den herrschenden Glauben angetreten. Gegen den Glauben, aus dessen Mitte der neue Prophet gekommen war, um die Mauern des alten Glaubens niederzureißen und einen neuen aufzubauen. Die neuen Christen wollten einen echten Glauben, einen, der direkt von Gott kam, nicht von irgendwelchen alten Männern im Vatikan, die mehr an der Jungfräulichkeit Marias interessiert schienen als am Wohlergehen der Menschheit.
Eigentlich war Simovic nur aus einem einzigen Grund in der katholischen Kirche geblieben: Es öffnete ihm viele Türen. Weil er, trotz der großen Zahl an Nichtgläubigen, als Atheist Außenseiter geblieben wäre. Und er wollte kein Außenseiter sein! In der Pressekonferenz hatte er sich sogar dabei erwischt, wie er zu moralisieren begann. Dabei war das Moralisieren doch die Kernkompetenz der katholischen Kirche.
Die Rolle des Glaubensführers wurde ihm aufgedrängt. Hatte er sich anfangs noch geschmeichelt gefühlt und gerne vor den Massen in Rom gesprochen, so merkte er nun, dass nicht er es war, der dort sprach. Dass er, genau wie der Papst, nur ein Stellvertreter war. Ein Stellvertreter für Jesus, der nicht verfügbar war. Doch im Gegensatz zum Papst wollte er kein Stellvertreter sein.
Simovic ging zur Minibar und goss sich einen Gin ein. Kaum hatte er einen Schluck getrunken, klingelte sein Handy schon wieder. Genervt sah er auf das Display. Doch dieses Mal waren es keine Christen, die ihn anriefen, nein, das waren sie definitiv nicht.
»Was gibt’s?«
Durch das Telefon dröhnte die tiefe Stimme des Grauhaarigen. »Wir haben ihn gefunden. Was sollen wir jetzt tun?«
70
Obwohl sie schon einige Jahre lang in der Stadt lebte, hatte Tamara Aerni das Basler Münster noch nie besucht. Die größte Kirche der Stadt war aus dem für Basel typischen roten Sandstein gebaut. Die beiden Kirchtürme wirkten wie ungleiche Brüder. Kein Wunder, denn sie waren nicht gleichzeitig entstanden, wie Tamara gelesen hatte. Ihr Blick fiel auf das kreuzförmige Kirchdach mit seinem Rautenmuster aus grünen, beigefarbenen und braunen Dachziegeln, das in der Sonne funkelte.
Staunend trat sie durch das reich verzierte Portal in den kargen und nüchternen Innenraum. Calvinistisch, wie es sich für die Schweiz gehörte. Die weiß getünchten gotischen Gewölbe des Münsters wurden durch Säulen aus rotem Sandstein getragen. An den Wänden fand die Kommissarin kein einziges Bild, keine Statue schmückte das Innere des Gotteshauses. Ein paar Grabplatten und Sarkophage erinnerten eher an einen Friedhof als an eine Kirche. Nur die bunten Glasfenster zeugten von einer anderen, prunkvolleren Zeit.
Bis auf ein paar betende alte Frauen und Männer sah Tamara niemanden in der Kirche. Kein Wunder, schließlich war Mittwochvormittag, es fand kein Gottesdienst statt, und die Touristen saßen noch beim Frühstück. Wollte sich der katholische Bischof hier mit ihr treffen, weil sich keines seiner Gemeindemitglieder an diesem Ort aufhielt? Weil niemand ihn hier erkennen würde? Vielleicht aber auch, weil der Bischof in viel größeren historischen Zusammenhängen dachte als nur in ein paar Jahrhunderten? Oder weil er das, was seine Kirche einmal geschaffen hatte, nicht aufgeben wollte?
Die Kommissarin ging zum Chor. Neben dem Altar führte eine Treppe hinunter in die Krypta. Als Tamara das Gewölbe betrat, zog ihr ein leicht modriger Geruch in die Nase. Noch bevor sie jemanden sehen konnte, hörte sie eine dunkle Männerstimme. »Hier ist der Atem von Jahrhunderten zu spüren.«
So kann man es auch ausdrücken , dachte sie und drehte sich um. Vor einer Wand der Krypta stand ein einfacher Altartisch, davor reihten sich Holzstühle aneinander. Der Raum wirkte wie eine kleine Kapelle. Aber wo war der Bischof? Das war doch seine Stimme gewesen?
Jetzt erst trat er aus einer Nische hervor. Tamara Aerni gab ihm die Hand und nickte freundlich. Johann Obrist war in Zivil gekommen, er trug eine dunkelgraue Hose und einen grünen Wollpullover, über dem ein kleines goldenes
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