Das letzte Sakrament
ihm erst recht. Doch Herodes I. war das bekannteste und raffinierteste Beispiel. Den Vorwurf, er habe Kinder ermorden lassen, hielt man schon seit über zwei Jahrtausenden für die Wahrheit. Dabei belegten seriöse Quellen, dass Herodes I. mindestens sieben Jahre vor der in der Bibel erwähnten Volkszählung gestorben war, wegen der Maria und Josef nach Bethlehem gekommen waren, wo sie dann Jesus auf die Welt gebracht hatten.
Trotzdem stand im Matthäus-Evangelium, dass Herodes aus Angst vor dem kleinen Jesus alle Knaben, die jünger waren als zwei Jahre, habe umbringen lassen. Eine etwas absurde Geschichte. War es nicht weitaus wahrscheinlicher, dass Herodes im Matthäus-Evangelium zu Unrecht an den Pranger gestellt wurde? Zumal keine weitere zeitgenössische Quelle diese barbarische Untat auch nur andeutete. Selbst in den drei anderen Evangelien wurde sie mit keinem Wort erwähnt.
In den meisten Quellen wurde Herodes I. als einer der ruhmreichsten Herrscher Judäas beschrieben, der zwar ein harter und unerbittlicher Vasallenkönig der Römer war, aber auch ein erfolgreicher Staatsmann. Warum nicht im Matthäus-Evangelium?
Für Professor Wismut war die Antwort klar. Das Evangelium war ungefähr achtzig Jahre nach Herodes’ Tod entstanden. Der Autor des Evangeliums hatte sich von den Juden abgrenzen wollen, da sie Jesus getötet hatten. Er brauchte ein Feindbild. Was lag da näher, als Gewalt gegen Kinder vorzutäuschen und den Herrscher zu verunglimpfen. Das war nicht weiter schwierig, man musste nur als Tatsache hinstellen, dass jener Herrscher zu der Zeit regiert habe, als Jesus geboren wurde. Nach achtzig Jahren lebte schließlich kein Zeitzeuge mehr, der sich an Herodes erinnern konnte.
Die Menschen waren eben einfach gestrickt, sie glaubten lieber der Bibel als den Fakten. Ja, sie glaubten nicht nur der Bibel, sie glaubten alles, was sie glauben wollten, wenn man ihnen nur die richtigen Gründe dafür nannte. Ken und Sunny waren da keine Ausnahme. In ihrem Fall war er ausnahmsweise froh darum.
Gleich nachdem er das Problem mit dem neuen Passagier erkannt hatte, hatte er seinen Steward Ken gebeten, Sunny zu holen. Keine zehn Minuten später hatten die Kinderbetreuerin und der Steward in seiner Kabine gesessen, ein wenig unsicher, was er wohl von ihnen wolle.
Er erzählte ihnen, er sei der Vater des kleinen Jungen, den er bei sich habe. Was ja in gewisser Weise auch stimmte. Die Mutter des Kindes, eine stolze und liebevolle Irakerin, sei leider direkt nach der Geburt im Kindbett gestorben. Deswegen wolle die Familie der Mutter, die noch im Irak lebe, den Kleinen zurück. Doch nicht, um für ihn zu sorgen. Nein, sie hätten etwas ganz anderes mit ihm vor. Sie wollten das Kind nur aus einem einzigen Grund haben: um den Tod der Mutter an ihm zu rächen.
Ja, er wisse, das sei unglaublich, und er habe alles versucht, das Kind zu schützen. Er habe der Familie Unterstützung angeboten, er habe vorgeschlagen, für die Ausbildung der anderen Kinder der Familie aufzukommen und eine Haushaltshilfe zu bezahlen, aber nichts habe gefruchtet. Dann habe er noch mehr Geld geboten, alles, was er besitze, doch sie wollten nur den Jungen. Das gebiete ihre Tradition und ihr Glaube!
Jetzt sei er auf der Flucht, weil er keinen anderen Ausweg mehr sehe. Doch die Familie sei ihm auf die Spur gekommen, und er fürchte um die Sicherheit des Kleinen. Er habe gehofft, die Flucht sei gelungen, doch als er diesen Mann an Bord gesehen habe, sei ihm klar geworden, das sei eine Illusion.
Jetzt habe er nur noch ein Ziel: Er wolle den Kleinen bei einer befreundeten Familie unterbringen, wo dieser unerkannt leben könne. Es breche ihm das Herz, aber der Junge sei bei ihm, seinem Vater, nicht mehr sicher. Seine Feinde könnten ihn jederzeit töten, auch hier auf dem Schiff! Denn dieser Mann, den sie an Bord geschickt hätten, sei zu allem fähig! Er würde sich als Polizist ausgeben, als Mann des Gesetzes, doch er sei nichts anderes als ein schmutziger Privatdetektiv, der schon mehrere Leichen im Keller habe.
Dieser Detektiv würde nach ihm fragen, vor allem aber nach dem Jungen. Er würde versuchen, an den Kleinen heranzukommen, um ihn zu entführen und der Familie seiner Frau zu übergeben. Und wenn er ihn nicht entführen könne, würde er ihn umbringen. Der Kerl sei brutal und skrupellos. Deswegen dürfe er den Jungen nicht zu Gesicht bekommen, ja, er müsse denken, der Kleine sei nicht auf dem Schiff.
Und genau da kämen sie ins
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