Das letzte Sakrament
Spiel! Wenn er sie darauf ansprechen würde, müssten sie dem Mann sagen, der Junge sei nicht an Bord. Sie seien die Einzigen auf dem ganzen Schiff, denen er vertrauen könne.
Er war gewiss kein Schauspieler, aber er hatte seine Rolle so überzeugend gespielt, dass Ken ihm sofort geglaubt hatte. Sunny hatte noch gezweifelt. Warum er denn wisse, dass der Mann kommen würde, wenn er doch keinen Kontakt habe zu der Familie, hatte sie gefragt. Und woran er den Mann erkannt habe?
Wismut hatte über diese Fragen nicht nachgedacht, ohne Zweifel eine Nachlässigkeit. Trotzdem waren ihm sofort die richtigen Antworten eingefallen, ganz so, als würde er selbst schon daran glauben, was er da erzählte.
Die Schwester seiner Frau sei die Einzige in der Familie, die auf seiner Seite stehe. Obwohl sie damit ihr eigenes Leben in Gefahr bringe, informiere sie ihn über jeden Schritt ihrer Verwandten. Nur dank ihrer Hilfe sei er bisher entkommen. Daher wisse er auch von dem Mann und wie er aussehe. Heimlich habe sie ihn fotografiert und ihm das Foto geschickt. Als Sunny das Foto sehen wollte, hatte er, ohne rot zu werden, erzählt, dass er es inzwischen vernichtet habe, weil sonst jeder, der es finden würde, herausfinden könne, von wem es stamme. Auf keinen Fall wolle er auch noch seine Schwägerin in Gefahr bringen.
So hatte er auch Sunny überzeugt, schließlich liebte sie Kinder über alles. Sie und Ken waren noch gestern Nacht zu einem Teil seiner Deckung geworden.
Sie würden ihn sogar dann noch decken, wenn er von Bord gegangen war. In ein paar Tagen war es so weit.
72
Die Worte des Bischofs hallten noch immer nach. Was weiß er? Tamara Aerni verstand, dass in dieser Situation selbst die Jesuiten nicht mehr mit einer Stimme sprachen. Dass auch deren legendäre Obrigkeitshörigkeit ihre Grenzen hatte, nämlich dann, wenn es um so elementare Dinge ging wie Leben und Tod.
»Sie haben uns also etwas zu Simon Kunen mitzuteilen?«, fragte sie. Beide wussten, es war eine rhetorische Frage, eine, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
»Kurz vor seinem Tod hat mein Bruder versucht, mich telefonisch zu erreichen«, sagte der Bischof schließlich. »Leider saß ich gerade in einem Flugzeug von Rom nach Basel. Daher hat mein Bruder mit Vikar Kunen gesprochen.« Der Bischof zupfte unsicher an seinem Bart. »So zumindest hat Kunen es mir berichtet, und ich wüsste nicht, warum er in diesem Punkt gelogen haben sollte.«
In diesem Punkt hat er nicht gelogen. In welchem dann?
»Wie schon gesagt, die beiden verstanden sich nicht gut«, fuhr Obrist fort. »Kunen warf meinem Bruder vor, gottlose Wissenschaft zu betreiben, ja, den Jesusklon mit der Untersuchung des Grabtuchs erst ermöglicht zu haben. Deswegen hat mein Bruder dem Vikar auch nur das Nötigste berichtet. Ich wünschte, ich hätte mit Roland reden können …« Der Bischof hielt inne und sah Tamara mit großen Augen an. »Das wird doch nicht aufgezeichnet, oder? Ich verlasse mich auf Ihre Integrität …«
»Das ist kein offizielles Verhör«, antwortete sie. »Gegebenenfalls müssen wir das später auf dem Kommissariat nachholen. Aber jetzt erzählen Sie erst einmal.«
»Mein Bruder hat Kunen berichtet, dass er wisse, wie der Professor den Jungen geklont habe«, sagte der Bischof.
»Und wie hat er es gemacht?«
»Das hat mein Bruder nicht erzählt. Er wollte es ihm wohl nicht offenbaren.«
»Das war alles?«
»Nein«, antwortete der Bischof. »Angeblich will Wismut Italien auf einem Kreuzfahrtschiff verlassen.«
»Das haben wir auch herausgefunden«, sagte Tamara.
Der Bischof sah sie erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«
»Wir haben unsere Quellen.«
»Vikar Kunen ist vor zwei Tagen losgefahren, weil er auf die MS Atlantis wollte. Eigentlich hätte er sich schon längst melden sollen …«
»Aber das hat er nicht getan.«
Der Bischof nickte. »Daraufhin sind mir Zweifel gekommen.« Er holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich über die Stirn. »Sie müssen wissen, Kunen ist im Grunde immer ein Soldat geblieben. Zwar ein Soldat Gottes, aber ein Soldat.«
»Und Sie befürchten, er könnte erneut jemanden töten?«
»Was meinen Sie mit erneut ?« Der Bischof sah sie unsicher an.
Jetzt erst fiel Tamara auf, dass man das Wort erneut auch anders deuten konnte. Nicht nur in Bezug auf Kunens Zeit in der Fremdenlegion. »Ich denke, dass wissen Sie«, sagte sie nur.
»Sie sind ausgesprochen gut informiert«, gab der Bischof zu. »Ich denke, wir haben die
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