Das letzte Theorem
den Unterrichtsstoff nach eigenem Gutdünken entscheiden.
Aber Ranjit hatte keine Ahnung, was genau er seinen Studentinnen und Studenten beibringen sollte. Ihm fehlte ein Plan.
Ihm war klar, dass er Hilfe brauchte. Er hoffte sogar, Dr. Davoodbhoy könne ihm unter die Arme greifen, der Mann, der so viel Verständnis aufgebracht hatte, als er das Passwort seines Mathematikprofessors stahl.
Dr. Davoodbhoy war immer noch an dieser Universität tätig. Nicht nur das, aufgrund der natürlichen Dezimierung der Angestellten durch Tod oder Ausscheiden aus Altersgründen war er auf der Leiter der Hierarchie sogar noch ein, zwei Sprossen höher geklettert. Doch als Ranjit ihn um Unterstützung bat, holte er sich einen Korb.
»Ach, Ranjit«, erklärte Dr. Davoodbhoy. »Darf ich Sie immer noch Ranjit nennen? Sie wissen doch, wie das ist. An unserer kleinen Universität unterrichten nicht viele weltberühmte Koryphäen. Man wollte Sie unbedingt in die Fakultät aufnehmen, aber keiner hat einen blassen Schimmer, was man mit Ihnen anfangen soll. Ihnen ist doch sicher klar, dass Sie gar nicht viel Unterricht zu geben brauchen. Bei uns gibt es nicht viele Lehrkräfte, die sich in erster Linie der Forschung widmen, aber dieser Weg steht Ihnen offen.«
»Huh«, erwiderte Ranjit gedankenverloren. Nach einer Weile meinte er: »Vielleicht könnte ich mich ein bisschen näher mit einigen kniffligen Problemen beschäftigen … auf Anhieb fallen mir da Riemann, Goldbach und Collatz ein …«
»Eine ausgezeichnete Idee«, lobte Davoodbhoy, »aber geben Sie Ihre Lehrtätigkeit nicht auf, ehe Sie richtig damit angefangen haben. Was halten Sie davon, wenn wir ein paar Kurzseminare einrichten, zum Aufwärmen sozusagen. Die braucht man nicht lange vorher anzukündigen.« Als Ranjit sich zum Gehen rüstete, dachte er über diesen Vorschlag nach. Doch ehe er zur Tür hinaus war, rief Davoodbhoy ihm hinterher: »Da wäre noch etwas, Ranjit. Sie hatten Recht, was Fermat anging, und ich war im Unrecht. Diesen Satz habe ich in meinem Leben noch selten aussprechen müssen. Aber in Zukunft werde ich mehr Vertrauen in Ihr Urteil setzen.«
Es freute Ranjit zu hören, dass jemand wie Dr. Davoodbhoy ihm vertraute. Er selbst war sich nicht so sicher, ob er mit seinen Einschätzungen immer richtiglag.
Sein erstes Seminar betitelte er »Einführung in die Grundlagen der Zahlentheorie«.
»Ich möchte einen Überblick über diese spezielle Materie geben«, erklärte er Davoodbhoy, der sofort alle Hebel in Bewegung setzte. Das Seminar lief über einen Zeitraum von sechs Wochen und jede Unterrichtseinheit dauerte vier Stunden. Daran teilnehmen durften Studentinnen und Studenten aus jedem Semester, auch Doktoranden, und die Anzahl der Seminarteilnehmer wurde auf fünfundzwanzig begrenzt.
Mit Zahlentheorie hatte Ranjit sich kaum noch befasst, seit er sich von Fermats berühmter Randnotiz hatte faszinieren lassen. Deshalb stöberte er in der Universitätsbibliothek nach entsprechender Literatur und ging im Unterricht nach diesen Büchern vor, wobei er sich anstrengen musste, den erstaunlich aufgeweckten und Besorgnis erregend scharfsinnigen Studenten, die sein Seminar besuchten, wenigstens ein Dutzend Seiten im Text voraus zu sein.
Leider merkten diese hellen Köpfe sehr schnell, worin seine Lehrmethode bestand. Sie war weder inspiriert noch diente sie der Inspiration. Und eines Abends gestand er Myra: »Ich langweile meine Studenten. Bücher lesen können sie auch ohne mich.«
»Das ist doch albern«, schalt sie ihn, in dem Bestreben, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Doch als er ein paar der höflichen, aber eindeutigen Kommentare wiederholte, die die Studenten von sich gegeben hatten, wurde sie nachdenklich. »Ich denke, ich weiß, was du falsch machst«, meinte sie schließlich. »Du solltest versuchen, ein bisschen mehr persönlichen Kontakt zu den jungen Leuten herzustellen. Wie wär’s mit ein paar deiner arithmetischen Tricks, die auf dem Binärsystem beruhen? Damit kannst du die Atmosphäre sicher auflockern.«
Da Ranjit nichts Besseres einfiel, befolgte er Myras Rat. Er konfrontierte die Kursteilnehmer mit der Russischen Bauernmultiplikation, dem Abzählen an Fingern und dem Trick mit den Münzen. Dabei benutzte er sogar richtige Geldstücke und
ließ sich von einem Studenten die Augen verbinden, während ein anderer eine beliebige Anzahl Münzen zudeckte. Myra sollte Recht behalten - wieder einmal. Die Studenten fanden das witzig.
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