Das letzte Theorem
auf diesem Gebiet ergeben hatten. Es kam nicht sehr oft vor, dass sie Zeit ganz für sich allein hatte, und diese Augenblicke, in denen sie einfach nur tun konnte, was sie wollte, betrachtete sie als ein kostbares Geschenk. Am ehesten bot sich ihr die Chance zum ungestörten Lesen, wenn der kleine Robert schlief oder in der Sonderschule war, die er besuchte. Aber auch wenn er, wie gerade jetzt, dem Hausmädchen eifrig überallhin nachlief, um ihr bei ihren morgendlichen Pflichten wie Bettenmachen und Zimmeraufräumen zu »helfen«.
Mit einer sich abkühlenden Tasse Tee auf dem Tisch - und natürlich bei einer laufenden Nachrichtensendung im Fernsehen, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich bei Natashas Rennen irgendetwas Unverhofftes ereignete - versuchte Myra, sich in ihre Journale zu vertiefen, bis sie plötzlich ihren Sohn herzzerreißend schluchzen hörte.
Sie hob den Kopf und sah das Hausmädchen, das Robert zu ihr ins Zimmer trug. »Ich weiß auch nicht, was er hat, Missus«, erklärte das Mädchen in bestürztem Ton. »Wir haben gerade die Mülleimer geleert, als Robert sich auf einmal hinsetzte und zu weinen anfing. Robert weint sonst nie, Missus!«
Das wusste Myra natürlich genauso gut wie das Mädchen. Aber jetzt weinte der Junge. Und Myra tat, was vor ihr unzählige Mütter getan haben, angefangen beim Australopithecus. Sie nahm ihren Sohn in die Arme, wiegte ihn tröstend hin und her und murmelte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Dadurch hörte er nicht auf zu weinen, aber der ärgste Tränenstrom versiegte, und das heftige Schluchzen ging über in ein leises Wimmern. Myra überlegte noch, ob dieses ungewöhnliche und Besorgnis erregende - aber keinesfalls lebensbedrohliche - Verhalten es rechtfertigte, ihren Mann in seinem Büro anzurufen, als das Mädchen einen erstickten Schrei ausstieß. Erschrocken blickte sie hoch.
Im Fernsehen zeigte man den Solarsegler ihrer Tochter. Bis auf die Tatsache, dass er leicht zur Seite geneigt war, sah er genauso aus wie immer. Doch unter dem Bild lief ein roter Streifen, auf dem stand: »Unfall beim Rennen zum Mond?«, und als sie den Ton lauter stellte, bestätigte der aufgeregte Nachrichtensprecher, dass mit der Diana irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Aber das Allerschlimmste war, dass die Pilotin der Diana - nämlich Myras geliebte Tochter - nicht auf die Funksprüche des Kommodore antwortete. Es hatte den Anschein, als sei der Segler nicht nur verunglückt, sondern als hätte man auf irgendeine Art und Weise die Pilotin entführt.
Myra Subramanian litt vielleicht die schlimmsten Qualen, die man sich überhaupt vorstellen kann, aber in ihrem Schmerz war sie nicht allein. Je intensiver die Rettungsmannschaften nachforschten, was der Diana zugestoßen und vor allen Dingen wo Natasha geblieben war, umso verwirrender wurde die Situation. Man stand vor einem unlösbaren Rätsel.
Einsatzkräfte vom Schiff des Kommodore hatten längst Raumanzüge angelegt und die Kommandokapsel der Diana erreicht. Sie waren in die Kabine eingedrungen, hatten von der Pilotin jedoch keine Spur entdeckt. Doch das Mysteriöseste an der Sache war, dass die Kontrolltafel an der einzigen Luftschleuse der Kapsel eindeutig anzeigte, dass sie seit Natashas Einstieg zu Beginn des Rennens nicht wieder geöffnet worden war. Natasha war also nicht nur verschollen, sie hatte ihre Kommandokapsel niemals verlassen.
Das war natürlich unmöglich. Trotzdem musste es stimmen, dafür gab es unwiderlegliche Beweise.
Zu allem Überfluss mussten der Kommodore und sein Stab auch noch mehrere Dutzend anderer Probleme lösen, alle auf einmal. Da gab es noch sechs weitere Solarsegler, die nun nicht mehr in geordneter Formation aufgereiht waren; einige drohten gegeneinanderzuprallen, weil ihre Piloten durch das Unglück, das ihrer Kameradin zugestoßen war, abgelenkt wurden und ihre Schiffe nicht mehr mit der notwendigen Konzentration lenkten. An sie erging der Befehl, die Segel aufzurollen und darauf zu warten, dass man sie abschleppte.
Das bedeutete, dass diese Schiffe als sechs kleine Materiekugeln steuerlos im All drifteten, bis man sie wieder eingefangen und irgendwie in Parkorbits geschleppt hatte, wo sie den übrigen Raumverkehr nicht gefährdeten … doch diese Aktion wurde auf später verschoben. Wenn die Zeit es gestattete, konnte man diese Probleme methodisch und ohne Hektik lösen.
Aber was aus Natasha Subramanian geworden war, ließ sich nicht methodisch aufklären. Der
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