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Das letzte Theorem

Das letzte Theorem

Titel: Das letzte Theorem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pohl Clarke
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Papier; Rechnungen verschiedener Geschäfte und Dienstleister, Reklamesendungen von Touristikunternehmen, Mietwagenfirmen und Online-banking-Kreditinstituten. Doch das vielversprechendste waren die ungefähr ein Dutzend persönlichen Briefe. Leider waren die meisten in Deutsch geschrieben, der Sprache des Landes, in dem der Professor ein paar Fachkurse absolviert hatte, und mit der Ranjit genauso wenig anfangen konnte wie mit Inuit oder Choctaw, aber aus den in Englisch oder Singhalesisch gehaltenen Schreiben erfuhr er die Nummer von Dabares Führerschein, seine genaue Körpergröße in Zentimetern und den PIN-Code seiner Bankkarte. (Wäre es nicht nur recht und billig gewesen, wenn Ranjit an einem Automaten vielleicht tausend Rupien abgehoben hätte, als Ausgleich für all die Mühe, die sein Mathematikprofessor ihm bereitete? Nein, schloss er, das wäre es nicht. Er hätte ein Verbrechen begangen. Trotzdem fand er die Vorstellung irgendwie witzig.)
    Natürlich hatte der Computer längst sämtliche möglichen Kombinationen ausprobiert und sich heruntergefahren. Ranjit tippte die neuen Informationen ein, klickte auf GO und verließ abermals die Bibliothek. Gewiss, er schottete sich vor der realen Welt ab. Aber die Wirklichkeit schien einem jungen Tamilen, der keinen Freund und zumindest vorläufig auch keinen Vater hatte, herzlich wenig zu bieten.
    Doch als er sein Zimmer betrat, um endlich den lange versäumten Schlaf nachzuholen, fand er dort etwas vor, das den ganzen Tag gleich in einem viel helleren Glanz erstrahlen ließ. Es war ein Brief mit einem Poststempel aus London, und er stammte von Gamini.
    »Guter alter Ranjit,
    bin hier sicher gelandet, wenn auch völlig erschöpft. Der Flug dauerte neun Stunden, und zweimal musste ich in ein anderes Flugzeug umsteigen, doch als ich in London ankam,
war es nur viereinhalb Stunden später. Das bedeutete, dass ich ungefähr acht Stunden warten musste, bis ich zu Bett gehen konnte, und bis dahin war ich fix und fertig. Oh, und ich habe dich schrecklich vermisst.«
    Gamini hatte lange gebraucht, um das Wichtigste auszudrücken, aber da stand es geschrieben. Ranjit nahm sich die Zeit, diesen Absatz drei-oder viermal zu lesen, ehe er mit dem Rest des Briefes fortfuhr. Gamini hatte viel Neues zu berichten, aber im Grunde nichts Persönliches. Der Unterricht sei interessant, aber vielleicht ein bisschen zu anstrengend. Das Essen in der Mensa war natürlich schrecklich, aber überall gab es indische Speiselokale, die außer Haus verkauften, und ein paar verstanden sich wirklich auf die Zubereitung eines guten Currygerichts. Die Unterbringung in der Schule war nicht viel besser als die Kost, aber für immer brauchte Gamini nicht dort zu wohnen. Sobald die Londoner Anwälte seines Vaters ihm grünes Licht gäben, würde er den Mietvertrag für eine, wie der Vermieter sich ausdrückte, »entzückende Maisonettewohnung« unterschreiben, nur fünf Minuten Fußweg von den meisten Einrichtungen der Schule entfernt.
    So etwas konnte man sich leisten, dachte Ranjit, während er sich ernüchtert in seinem eigenen, ziemlich tristen Zimmer umsah, wenn man das Glück hatte, einen reichen Vater zu haben. »Ach ja, Ranjit«, ging der Brief weiter, »hier würde es dir gut gefallen, denn von der Schule aus erreicht man in zehn Minuten den Leicester Square mit seinen vielen Theatern und Restaurants.« Gamini hatte bereits die Zeit gefunden, um sich eine Aufführung von Oliver Goldsmiths Komödie »Die Irrtümer einer Nacht« anzusehen und zwei Musicals zu besuchen.
    Offenbar amüsierte sich Gamini Bandara köstlich, auch wenn er neuntausend Kilometer von zu Hause weg war.
    Ranjit seufzte, freute sich einen Moment lang darüber, dass es seinem abwesenden Freund so gutging - oder redete sich
ein, er gönne ihm sein Glück -, kroch in sein einsames Bett und schlief ein.
     
    Es dauerte lange, bis Ranjit endlich den Code knackte - ganze elf Tage, wobei er täglich viel Zeit darauf verwandte, zusätzliche Daten aufzutreiben oder sich neue Wege ausdachte, wie der Computer sie aneinanderkoppeln konnte. Doch dann betrat er eines Morgens ohne viel Hoffnung die Bibliothek, und zu seinem größten Entzücken stand auf dem Computerschirm: »Dr. Dabares Passwort identifiziert.« Es entpuppte sich als das Motto der Universität von Colombo, Buddhih Sarvatra Bhrajate - »Aus allem leuchtet Weisheit« -, und dem Geburtsdatum seiner Frau, das er in der Mitte geteilt und zwischen die Worte eingefügt

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