Das letzte Theorem
Vorkommnisse, die auf Ranjits Leben einen wichtigen Einfluss hatten, und von denen er nichts mitkriegte. Zum Beispiel hatte er keinen blassen Schimmer, warum man ihn an diesen Ort verschleppt und gefoltert hatte. Und genauso ahnungslos war er, wieso auf einmal die Folterungen aufhörten. Ranjit hatte noch nie etwas von einer außerordentlichen Auslieferung oder der folgenschweren Entscheidung gehört, die die Mitglieder des britischen Oberhauses mit richterlicher Funktion schon vor Jahrzehnten ausgesprochen hatten.
Selbstverständlich hätten die Männer, die Ranjit folterten, ihm ein paar Informationen zukommen lassen können, wenn sie nur gewollt hätten. Aber sie wollten nicht.
Nach dem ersten Tag ohne Folter sah er Bruno, den Kerl, der ihn auf den Bauch geschlagen und mit einem Elektrokabel traktiert hatte, nie wieder. Blinzler sah er dafür umso häufiger, doch erst, nachdem dieser ihm das Versprechen abgepresst hatte, dass er aufhören würde, zu fragen, warum man ihn misshandelt hatte und ob er jemals wieder aus diesem Gefängnis herauskäme. Er sollte überhaupt keine Fragen stellen. Ein paar
Informationen gab Blinzler ihm allerdings. (»Bruno? Ach, der ist befördert worden. Er weiß einfach nicht, was er mit einem Häftling anfangen soll, wenn er ihm keine Schmerzen zufügen darf. Und wie es aussieht, werden wir dich nicht mehr foltern.«)
Das war nicht das Schlechteste, was ihm passieren konnte, fand Ranjit. Wenn die Prügel und das Waterboarding aufhörten, war schon eine ganze Menge gewonnen. Doch als Blinzler ihn nach einer Weile nicht mehr aufsuchte, weil Ranjit sich nicht an sein Versprechen hielt, auf Fragen zu verzichten, sondern gar nicht anders konnte, als immer wieder nach dem Grund für seine Gefangennahme zu forschen, wurde es ihm verdammt langweilig. Gänzlich ohne menschliche Gesellschaft war er jedoch nicht. Ein humpelnder alter Mann brachte ihm das Essen und trug den Kübel weg, der ihm als Toilette diente, nur unterhalten konnte er sich nicht mit ihm. Zweifelsohne beherrschte der Alte irgendeine Sprache, aber es schien keine zu sein, die Ranjit kannte.
Ranjit wusste nicht, wann er anfing, lange, einseitige Gespräche mit seinen Freunden zu führen. Mit seinen abwesenden Freunden, denn keiner von ihnen hielt sich ja bei ihm in seiner Zelle auf.
Natürlich hörte keiner, was er ihnen mitzuteilen hatte. Es wäre interessant gewesen, wie zum Beispiel Myra de Soyza oder Pru, das Mädchen ohne Nachnamen, auf seine Äußerungen reagiert hätten. Gamini Bandara kam vielleicht noch am besten dabei weg, denn nachdem Ranjit ihm sein eigenes monotones Dasein geschildert hatte, hielt er seinem abwesenden besten Freund nur noch vor, er hätte während seiner Stippvisite in Colombo lieber ein bisschen mehr Zeit für Ranjit erübrigen sollen anstatt sich derart ausgiebig dieser Amerikanerin zu widmen, die er ohnehin nie wieder sehen würde.
Ein paar von Ranjits abwesenden Freunden waren Leute, die er nie persönlich kennengelernt hatte. Zum Beispiel der bereits verstorbene Paul Wolfskehl. Wolfskehl, ein deutscher
Industriemagnat, lebte im 19. Jahrhundert, und die Frau, die er von Herzen liebte, hatte seinen Heiratsantrag abgelehnt. Trotz seines immensen Reichtums und seiner Machtfülle sah er danach in seinem Leben keinen Sinn mehr, und er beschloss, Selbstmord zu begehen. Aber dann kam alles ganz anders. Während Wolfskehl auf den richtigen Moment wartete, um Hand an sich zu legen, griff er planlos nach irgendeinem Buch, um ein bisschen darin zu lesen.
Wie es der Zufall wollte, handelte dieses Buch von Fermats Letztem Satz, und der Autor war ein gewisser Ernst Kummer. Und zufällig hatte Wolfskehl bereits ein paar von Kummers Vorträgen über Zahlentheorie besucht; aus lauter Neugier fing er an, dessen neueste Abhandlung zu lesen …
Und wie so viele andere Amateurmathematiker vor und nach ihm war Wolfskehl sofort von der Materie gefesselt. Er vergaß, dass er sich eigentlich hatte umbringen wollen, und vertiefte sich in die Behauptung, dass a 2 + b 2 = c 2 sind, und das Paradoxon, dass dieser Satz für die dritte Potenz nicht mehr zutraf.
Dann war da noch die gleichfalls längst verschiedene Sophie Germain, die als junges Mädchen die Schrecknisse der Französischen Revolution kennengelernt hatte. Wieso dieser Umstand Sophie veranlasste, sich beruflich der Mathematik zuzuwenden, leuchtete auf Anhieb nicht ein. Doch dem war so.
Für eine Frau war es natürlich sehr schwer, sich auf diesem
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