Das letzte Theorem
nicht in Worten abgefasst war. Jemand knallte ihm unverhofft eine Faust an die Schläfe, ein Schlag, gegen den er sich nicht wappnen konnte, weil er ihn nicht kommen sah.
Trotzdem durfte er schließlich die winzige Toilette benutzen, allerdings mit verbundenen Augen, und die Tür blieb offen. Er bekam auch Verpflegung - das heißt, jemand klappte das Tischchen vor seinem Sitz herunter, stellte etwas darauf und befahl: »Iss!« Was man ihm vorsetzte, fühlte sich an wie ein Sandwich, belegt mit einem Käse, den er nicht kannte, doch mittlerweile hatte Ranjit fast zwanzig Stunden lang nichts in den Magen bekommen und er verschlang es gierig, ohne ein Getränk. Als er es dann wagte, um einen Schluck Wasser zu bitten, fing er sich den nächsten Boxhieb gegen die Schläfe ein.
Wie lange sie flogen, wusste Ranjit nicht, denn er fiel in einen unruhigen Schlaf und wachte erst auf, als das Hüpfen und Rumpeln der Maschine ihm verrieten, dass sie landeten, und zwar auf einer noch viel unebeneren Piste als der vorherigen. Auch jetzt nahm man ihm die Augenbinde nicht ab. Man schleifte ihn aus dem Flugzeug hinaus und stopfte ihn in irgendein Fahrzeug, in dem man ihn über eine Stunde lang herumkutschierte.
Zum Schluss führte man ihn - immer noch mit Augenbinde - in ein Gebäude, durch einen Korridor und in einen Raum, wo seine Bewacher ihn unsanft auf einen Stuhl setzten. Einer von ihnen blaffte ihn dann in einem Englisch mit starkem Akzent an: »Hände ausstrecken! Nein, die Handflächen nach oben!« Als er gehorchte, schlug man ihm mit einem schweren Gegenstand brutal auf die Hände.
Die Schmerzen waren grässlich, und Ranjit stieß einen lauten Schrei aus. Dann brüllte der Mann: »Los, raus mit der Wahrheit. Wie heißt du?«
Das war die erste Frage, die man Ranjit während seiner langen Gefangenschaft stellte, und die man am häufigsten wiederholte. Man wollte ihm einfach nicht glauben, dass er Ranjit Subramanian war, der zufällig die Kleidung eines Mannes trug, die laut der eingenähten Schildchen einem gewissen Kirthis Kanakaratnam
gehörten. Jedes Mal, wenn er die wahrheitsgemäße Antwort gab, teilte man die Strafe für Lügen aus.
Die Bestrafung war unterschiedlich, je nachdem, wer ihn verhörte. Der untersetzte, schwitzende Kerl namens Bruno beschleunigte die Wahrheitsfindung am liebsten mit einem vier bis fünf Zentimeter dicken Elektrokabel, das grauenhafte Schmerzen verursachte. Zur Abwechslung schlug Bruno Ranjit auch mal mit der flachen Hand kräftig auf den nackten Bauch; das tat nicht nur entsetzlich weh, sondern Ranjit befürchtete jedes Mal, durch den Schlag könne sein Blinddarm oder die Milz platzen. Aber etwas Beruhigendes hatte Brunos Technik. Er riss ihm keine Fingernägel aus, brach ihm nicht die Knochen, quetschte ihm nicht die Augen aus dem Kopf; Ranjit mutmaßte, dass man ihm nichts antun wollte, was bleibende Spuren hinterließ, und daraus schöpfte er die Hoffnung, dass sie planten, ihn irgendwann einmal freizulassen.
Doch eines Tages wurde diese Hoffnung zunichte gemacht, als Bruno in einem Anfall von Jähzorn sein Elektrokabel durch den Raum schleuderte, sich von dem Tisch eine kurze hölzerne Keule schnappte und damit Ranjit mehrmals ins Gesicht schlug. Das brachte Ranjit nicht nur ein blaues Auge und einen ausgeschlagenen Schneidezahn ein, er verlor auch beinahe den Glauben, an den er sich bis zu diesem Zeitpunkt so hartnäckig geklammert hatte, nämlich dass man ihn eines Tages laufen lassen würde.
Der andere der beiden Folterknechte, die sich mit Ranjit beschäftigten, war ein älterer Mann, der nie seinen Namen nannte, und ein Auge immer halb geschlossen hielt. (In Gedanken bezeichnete Ranjit ihn als »Blinzler«.) Seine Methoden hinterließen nur selten Spuren, und er befleißigte sich einer seltsam beruhigenden Sprechweise. Als er sich Ranjit das erste Mal vornahm, drückten zwei seiner muskulösen Gehilfen Ranjit flach auf den Rücken, und Blinzler hielt ein viereckiges Stück Stoff in die Höhe. »Jetzt werden wir etwas mit dir anstellen«, warnte er in höflichem Ton, »das dir den Eindruck vermittelt,
du würdest ertrinken. Aber das passiert nicht, darauf gebe ich Acht. Du musst meine Fragen nur ehrlich beantworten.« Dann legte er Ranjit das Tuch über das Gesicht und goss kaltes Wasser aus einem Metallkrug darüber.
So etwas hatte Ranjit noch nie erlebt. Das Schlimmste waren nicht die Schmerzen, sondern die brutale Panikattacke, die ihn völlig hilflos machte. Ranjit
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