Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Wut, aus Angst und aus Schmerz.
Da lagen sie, die Verschwundenen, alle sechs auf einem Haufen, halb aufgefressen von wilden Tieren, weggeworfen wie Müll. Jungen und Mädchen, nicht viel jünger als Evie und Raffy, weggerissen von ihren Familien, ermordet und dem Fäulnisprozess überlassen.
Rab zog einen Flachmann aus der Tasche, schenkte einen Fingerhut voll in den Deckel und gab ihn Lucas. Der zögerte, nahm ihn jedoch schließlich und leerte ihn in einem Zug. Rab schenkte nach, gab den Deckel wieder Lucas und nahm selbst einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
»Wer hat das getan?«, hörte Lucas sich sagen, zuerst leise zu sich selbst, dann etwas lauter. Schließlich ging er auf Rab los. »Wer hat das getan?«, schrie er ihn an. »Erzähl mir nicht, dass du nichts weißt. Sie sind hier. Vor dem Tor, das du bewachen sollst. Sag mir, wie sie hierhergekommen sind. Sag mir, was mit ihnen passiert ist.«
Rab blickte ihn mürrisch an. »Ich weiß nichts«, sagte er, aber Lucas sah etwas in seinen Augen: Abscheu. Rab war schließlich auch ein Mensch, und sein Blick verriet, dass er nicht der Ansicht war, dass diese jungen Leute es verdient hatten, ermordet und entsorgt zu werden wie Müll.
»Man hat sie vor deinem Tor liegen lassen«, sagte Lucas mit rauer Stimme. »Meinst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat? Meinst du nicht, dass man mit dem Finger auf dich zeigen wird? Warum gerade hier? Warum gerade jetzt? Sag es mir, Rab. Sag mir, was du weißt. Sag es mir auf der Stelle.«
Rab sah ihn unbehaglich an. »Du glaubst, dass ich etwas weiß?« Sein Ton war anklagend. »Du glaubst, ich weiß etwas über diese Leichen? Da liegst du falsch. Ich weiß gar nichts. Ich wollte nur die Fliegen loswerden, das ist alles. Meinst du vielleicht, ich hätte Meldung gemacht, wenn ich gewusst hätte, was hier passiert ist?«
»Du musst etwas wissen«, sagte Lucas und sah stur geradeaus. Er trank den Rest seines Whiskys aus, spürte das Brennen im Hals und genoss den herben Geschmack, der den Geruch von verwesenden Leichen überdeckte. »Du bist der Torwächter, auch wenn du zu betrunken bist, um etwas zu unternehmen. Die jungen Leute da draußen vor deinem Tor sind tot, und ich habe Grund zu der Annahme, dass es Fremde in der Stadt gibt, die diese Morde begangen haben, obwohl es dort angeblich sicher ist. Sag mir, was du weißt, und ich garantiere dir, dass du für deine Beteiligung an dem Verbrechen nicht bestraft wirst. Sonst … sonst wird man dir die Schuld geben, wenn die Eltern der Toten kommen und sie besuchen wollen. Denn sie werden sie besuchen wollen. Wir werden sie begraben, jeden Einzelnen von ihnen.«
Rab schien zu überlegen. Er holte tief Luft, dann wanderte sein Blick zu Lucas. »Ich tue, was man mir gesagt hat«, erklärte er vorsichtig. »Ich beobachte, halte Ausschau und gebe dem Bruder Bescheid, was vor sich geht.«
»Und hast du dem Bruder auch über die Leichen Bescheid gegeben?«
Rab schüttelte energisch den Kopf. »Ich wusste nichts von irgendwelchen Leichen. Ich habe nur vor ein paar Tagen die Fliegen bemerkt«, sagte er abwehrend, und sein Ton wurde aufgeregter.
Lucas beugte sich vor. »Aber Rab, wie sind denn die Leichen hierhergekommen? Wie sind sie unbemerkt durch dein Tor gelangt?«
Rab antwortete nicht sofort. Schließlich stand er auf. »Mir reicht’s«, stieß er wütend hervor und wollte davongehen, Richtung Stadt. Doch Lucas war schneller. Er packte Rab am Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Rab war zwar stark, aber Lucas wusste, was zu tun war. Gleich darauf lag Rab mit dem Gesicht zum Boden, die Arme auf den Rücken gedreht. Er trat um sich, aber vergeblich.
»Erzähl mir alles«, sagte Lucas, und seine Stimme klang jetzt tiefer wegen der Anstrengung, die es ihn kostete, Rab in Schach zu halten. »Erzähl es mir, oder es wird dir noch leidtun. Allem Anschein nach hast du etwas mit diesen Todesfällen zu tun, und ich warne dich, ich werde nicht zögern, dich zu töten, hast du verstanden? Das ist keine leere Drohung. Wenn du nicht in einem dieser Gräber enden willst, dann rede jetzt.«
Es herrschte Schweigen und Lucas packte fester zu.
»Okay«, stieß Rab schließlich keuchend hervor, »ich werde dir alles sagen.« Lucas ließ eine Hand los und Rab sackte wieder zu Boden. Er sah frech zu Lucas hoch. »Aber danach will ich mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Danach will ich nur noch meine Ruhe. Ist das klar?«
»Gar nichts ist klar«, sagte Lucas mit
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