Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
düsterer Miene. »Sag mir, was du weißt.«
Rab rappelte sich auf. »Du willst doch die Leichen begraben, oder?«, brummte er. »Dann machen wir das zuerst. Danach erzähle ich dir, was ich weiß. In meiner Hütte, da sind wir ungestört.«
Lucas nickte grimmig. Dann legte er die Verschlusskappe von Rabs Flasche weg, hielt die Luft an und ging zu dem Berg Leichen. Er verscheuchte die Fliegen und bemühte sich, die verwesenden Körper und das angefressene Fleisch nicht anzusehen.
Schweigend trug er jede Leiche zu einem Fleckchen Erde, das ihre Grabstätte werden sollte. Es war hart; die meisten Leichen waren nur noch Skelette, an denen verfaultes Fleisch hing. Sie waren übel zugerichtet, voller Maden, die sich durch das hindurchfraßen, was noch von ihnen übrig war.
Rab beobachtete Lucas eine Weile, schüttelte den Kopf und spuckte auf den Boden. »Wir brauchen ein paar Spaten«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«
»Sag Clara nichts. Sie soll es nicht sehen«, meinte Lucas.
»Soll ich sie zur Hütte bringen?«, knurrte Rab.
Lucas schüttelte den Kopf. »Sie wird sich sicherer fühlen, wenn ich ein Auge auf sie habe«, erklärte er.
Rab ging achselzuckend davon.
Lucas sah ihm eine Weile nach, dann kümmerte er sich wieder um die Leichen, bis Rab zurückkam und beide anfingen zu graben. Ein Grab pro Person. Diejenigen, die in dem Haufen zuunterst gelegen hatten, waren nicht mehr zu erkennen, während die, die weiter oben lagen, leichter zu identifizieren waren – an einem Stück von der Kleidung etwa oder an einem Teil des Gesichts, der noch nicht von Tieren zerfleischt war oder verfault oder von Insekten befallen. Jedenfalls kannte Lucas jeden von ihnen, weil er sich ihre Fotos so oft auf der Vermisstenliste angeschaut hatte.
Sobald die Leichen unter der Erde waren und Lucas jedes Grab mit einem Stein markiert hatte, folgte er Rab zu der ersten Leiche, Gabrielle Marchant. Lucas begrub auch sie und dann ging er zusammen mit Rab zum Tor zurück. Unterwegs nahmen sie Clara mit, die kein Wort sagte, und gemeinsam marschierten sie zur Hütte, wo Rab und Lucas sich draußen unter dem Wasserhahn sehr lange die Hände wuschen.
»So«, sagte Lucas.
»So«, sagte Rab und ging in seine Hütte.
Lucas folgte ihm, den Arm schützend um Clara gelegt. Er war noch nie in Rabs Behausung gewesen. Von außen war es nur eine Bretterbude, eine schäbige Holzkonstruktion. Aber als Lucas durch die Tür trat, war er erstaunt über die wohlige Wärme, die ihn empfing, über die Decken über den Stühlen und über den kleinen Ofen in der Ecke neben dem Bett. Über dem Ofen hing ein Kessel und auf einem kleinen Tisch stand eine Tasse.
Lucas bedeutete Clara, auf einem hölzernen Schaukelstuhl Platz zu nehmen, und sie setzte sich sofort hin und zog die Knie an die Brust. Lucas beobachtete sie eine Weile und fragte sich, wie viel sie wohl mitbekommen hatte und was wohl in ihrem Kopf vorging. Dann wandte er sich an Rab. »So, Rab, hier wohnst du also.«
»Ich würde euch ja einen Tee anbieten, aber ich habe nur eine Tasse«, sagte Rab sarkastisch, aber keineswegs unfreundlich. Er deutete auf einen der Stühle, und Lucas setzte sich.
Rab ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder und füllte zwei Gläser mit Whisky. Lucas wollte den Whisky nicht, den Rab ihm einschenkte, deshalb bot Rab ihn Clara an. Die zögerte zunächst, lehnte dann aber ebenfalls ab. »Der wärmt besser als Tee«, sagte Rab, als ob es einer Erklärung bedürfte. Lucas sagte kein Wort, er wartete einfach ab, während Rab sich auf dem Stuhl zurücklehnte und langsam ausatmete.
»Ich habe nicht gewusst, was sie gemacht haben«, begann er schließlich. »Ich hatte keine Ahnung. Der Bruder hat nur gesagt, ich soll sie hereinlassen, wenn sie kommen.«
»Wen?«, fragte Lucas und beugte sich vor. »Wer sind ›sie‹?«
Rab zuckte die Achseln. »Ich weiß keine Namen«, entgegnete er mit wiederkehrendem Sarkasmus. »Der Bruder hat sie nur unsere Spitzel genannt.«
Lucas blickte hinüber zu Clara, die sichtlich blass wurde.
»Spitzel?«, fragte Lucas. »Warum wusste ich nichts davon?«
Rab sah ihn eine Weile an und fing dann an zu lachen. »Du?«, meinte er kopfschüttelnd. »Glaubst du wirklich, du hättest hier das Sagen? Glaubst du wirklich …« Er schüttelte wieder den Kopf, wischte sich eine Träne aus dem Auge und machte ein ernstes Gesicht. »Du weißt gar nichts. Du tanzt doch nur nach seiner Pfeife.«
Lucas kniff die Augen zusammen. »Die Lage hat sich
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